Der Christliche Studentenweltbund (WSCF)
Der Christliche Studentenweltbund (World Student Christian Federation) ist eine internationale ökumenische Jugendbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde mit dem Ziel, das Evangelium zu verkünden. Er hat eine Hauptrolle bei der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen gespielt und bildet den Ursprung der Cimade (Vertriebenen-Hilfskomitee) in Frankreich und vieler weiterer Initiativen im Zusammenhang mit den Spannungen, die die Welt im 20. Jahrhundert durchlebt hat. Sein Sitz befindet sich in Genf.
Die Anfänge
1895 in Vadstena (Schweden) legt John Mott (1865-1955) die Grundlagen dessen, was sehr schnell zu einer internationalen Studentenbewegung wird, die in den christlichen Kreisen jeglicher Konfession auf große Resonanz stößt: der Christliche Studentenweltbund (World Student Christian Federation). Kurze Zeit später, in den Jahren um 1905, öffnet sich die Bewegung auch den Frauen zu einer Zeit, wo gemischte Aktivitäten sehr selten waren. Ein Zweig, der den jungen Erwachsenen offensteht – in Frankreich handelt es sich um den Nach-Bund – schließt sich später daran an.
John Mott (Friedensnobelpreisträger 1946) wurde in den Vereinigten Staaten in einer militanten methodistischen Familie geboren. Er studiert zunächst Geschichte an der Universität Cornell (NY) und engagiert sich dort im örtlichen Christlichen Verein Junger Menschen, dem er bald seine ganze Energie widmet. 1888 wird er dessen umherreisender Generalsekretär. Zu jener Zeit streben die meisten westlichen Universitäten Reformen an, die ihr Lehrangebot bereichern und abwechslungsreicher gestalten. John Mott ergreift diese Gelegenheit, um dort Gruppen des Christlichen Vereins Junger Menschen aufzubauen und den Studenten eine biblische und ethische Ausbildung anzubieten als Ergänzung zu der Lehre, die sie auf die Ausübung ihrer Verantwortlichkeiten vorbereitet. Er steht sich so in Verbindung zu anderen Studentenverbänden, die ähnliche Zwecke verfolgen. Diese verschiedenen Gruppen und Verbände will er durch einen gemeinsamen ökumenischen Anspruch zusammenschließen. Die Verschiedenheit der Zugänge, weit davon entfernt, ein Hindernis darzustellen, scheint in der Tat eine gute Art und Weise zu sein, sich in einer zugleich vielfältigen und auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhenden Welt um den Respekt vor dem Gegenüber zu bemühen. Von Anfang an wird das multidisziplinäre Vorgehen in der Arbeitsweise bevorzugt.
John Mott ist bis 1920 Generalsekretär des WSCF. Danach wird er zu dessen Präsidenten.
Der WSCF verlegt seinen Sitz nach Genf, wo schon sich schon der Sitz des Christlichen Vereins junger Menschen befindet und der des Roten Kreuzes. In der Folge haben sich viele internationale Organisationen in dieser Stadt niedergelassen: die Vereinten Nationen, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK).
Gleich nach der Gründung des WSCF entstehen mehrere nationale Föderationen.
Der englische Zweig Student Christian Movement (SCM) wird 1895 auf Initiative eines jungen irischen Pfarrers namens Tissinton Tatlow (1876-1957) gegründet. Der SCM lässt sich sogleich in Oxford und Cambridge nieder und zieht zahlreiche Studenten an, von denen einige in der Folge große Verantwortung im Leben der Kirchen übernommen und in der Ökumene eine wichtige Rolle gespielt haben, Ruth Rouse (1892-1956), Joseph H. Oldham (1874-1964), William Temple (1881-1944). Der SCM hat viele Föderationen anderer Länder auf die anglikanische Liturgie aufmerksam gemacht, auf die Probleme der Übersetzung und auf einen gewissen Pragmatismus in der Behandlung sozialer Probleme.
Der deutsche Zweig Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV) wird 1897 in einem dynamischen universitären Milieu gegründet, in dem es seit langem zahlreiche Studentenverbände gibt. Pastor Hans Brandenburg ist ihr erster Generalsekretär. In der Zwischenkriegszeit haben die Verantwortlichen und Studenten der DSCV eine wichtige Rolle in der Verbreitung des Gedankengutes von Karl Barth gespielt, damals Professor an der Göttinger Universität. Einige haben in der ökumenischen Gruppe Glauben und Kirchenverfassung mitgearbeitet. Die meisten haben 1934 die Barmer Theologische Erklärung unterzeichnet und sich in der Bekennenden Kirche engagiert: Reinhold von Thadden (1891-1976), Martin Niemöller, Hanns Lilje (1799-1977) und natürlich Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Die Nationalsozialisten haben die DCSV 1938 verboten. Doch für viele ihrer Mitglieder hat sie heimlich im Rahmen des Christlichen Studentenweltbundes weiter bestanden. Nach 1945 findet man ihre tragenden Kräfte in den Evangelischen Studentengemeinden (ESG), den Evangelischen Akademien und in den Versammlungen der Kirchentage, die von 1949 bis 1989 den Studenten der BRD und der DDR regelmäßige Treffen ermöglicht haben.
Der französische Zweig (Französische Föderation der christlichen Studentenverbände) wird 1898 vom Dekan der Protestantischen Theologischen Fakultät von Paris Raoul Allier (1862-1939) gegründet. Sehr schnell treten ihr Gruppen dem Christlichen Verein Junger Menschen bei wie auch der Kreis der protestantischen Studenten von Paris und einige andere, vor allem protestantischen Ursprungs. In der Folge kommen jüdische, orthodoxe und andere, offen agnostische Studenten hinzu. Charles Grauss war ihr erster Förderer: er begünstigt die Begegnungen, ermöglicht den Kauf von Grundstücken in den Hautes Alpes und auf der Ile d’Oleron, um dort Sommerlager zu organisieren, und er gründet eine Zeitschrift.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es auch nationale Föderationen in den Niederlanden, der Schweiz, in Indien und China gegeben.
Der WSCF gibt eine Zeitschrift heraus, World Student, die durch nationale Zeitschriften abgelöst wird. In Frankreich handelt es sich um den Semeur und für die Gymnasiasten um Notre Revue.
Vor dem Krieg von 1914 – erste Engagements
John Mott und andere Verantwortliche der Föderationen sind bei der Konferenz in Edinburgh (1910) anwesend, die die Kirchen der verschiedenen protestantischen Richtungen versammelt, um ein missionarisches Evangelisierungsprojekt vorzustellen zu einer Zeit, in der politische Strategien zur Kolonisierung sich weiterentwickeln und in Konflikt miteinander geraten. Die Redebeiträge von John Mott sind von dem Versuch gekennzeichnet, andere besser zu verstehen und sie zu respektieren. Der WSCF spielt von nun an eine sehr wichtige Rolle in der Ökumene, indem er weitgehend zu den Arbeiten von Glauben und Kirchenverfassung und Praktisches Christentum beiträgt.
Im Jahre 1913 gründet der WSCF einen Verein in der Art einer Gemeinschaft, die Ehrenamtlichen für Christus, da verschiedene Missionen von ihren Führungskräften verlangen, ständig verfügbar zu sein. Diejenigen, Frauen und Männer, die sich dort engagieren, geloben Zölibat. Suzanne de Dietrich (1891-1981) in Frankreich, Ruth Rouse (1872-1956) in England sind unter den ersten Ehrenamtlichen; sie werden umherreisende Generalsekretärinnen des WSCF und sichern so die Lebendigkeit der Arbeitsgruppen und regen ihre Treffen an.
Suzanne de Dietrich hat sich nach Ingenieurstudien für die Theologie interessiert. Sie hat in den Studentengruppen die Praxis des Bibelstudiums eingeführt. Zusammen mit Madeleine Barot hat sie 1936 das Komitee für Flüchtlingshilfe gegründet, das 1939 zur Cimade wurde (Ökumenischer Dienst gegenseitiger Hilfe).
Ruth Rouse hat Sanskrit und Theologie studiert und danach in verschiedenen Ländern Gruppen gegründet, besonders in Indien, wo sie oft hinreist.
Sie wird die engste Mitarbeiterin von John Mott.
Die Zwischenkriegszeit – eine Zeit des Aufbruchs
Während des Ersten Weltkrieges waren die Kirchen den nationalistischen Feindseligkeiten ausgesetzt und den Spaltungen, die sich daraus ergaben. Nach dieser langen besonders mörderischen Zeit, als die Grenzen neu gezogen werden und die Migrationsbewegungen zunehmen, wächst überall die ethische und politische Unsicherheit, besonders in Universitätskreisen. In seinen verschiedenen Formationen begegnet der WSCF diesen Schwierigkeiten …
Vor Ort begünstigt er in gemeinsamen Lesungen interdisziplinäre Treffen (Philosophie, Geschichte, Literatur, Mathematik), aber auch die Begegnung der Nationalitäten. Einige Studenten kommen aus Russland, andere sind vor dem unterschwelligen Antisemitismus geflohen, der in einigen Ländern Mitteleuropas herrscht und verhindert, dass die Juden Universitätsstellen besetzen können. Man studiert Karl Barths Werke, die sehr schnell ins Englische und Französische übersetzt werden, sowie die grundsätzlichen von der dialektischen Theologie aufgeworfenen Fragen. Man interessiert sich für die Orthodoxie, das Judentum und die auf die Person konzentrierte Philosophie.
In jener Zeit nehmen die ökumenischen Treffen stark zu.
Im Jahre 1927 löst die Versammlung der Gruppe Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne eine heftige Reaktion des Vatikans aus, nämlich die Enzyklika Mortalium animos (1928).
Der Vatikan weist jegliche Diskussion mit der protestantischen und orthodoxen Welt zurück.
Dagegen bieten die Konferenzen in Oxford und Edinburgh 1937 die Gelegenheit zu einer entscheidenden Annäherung zwischen den Gruppen Praktisches Christentum und Glauben und Kirchenverfassung, denn es wird beschlossen, einen Ökumenischen Rat der Kirchen zu gründen.
Dank den Verantwortlichen, dem Pastor Pierre Maury, dem Pastor Visser‘t Hooft und anderen, Reinhold von Thadden, dem Bischof Lilje in Deutschland, J. H. Oldham, dem Bischof Temple, der unermüdlichen Ruth Rouse in England, werden unaufhörlich Zwischenstationen erreicht, die die verschiedenen nationalen und internationalen Instanzen immer solidarischer werden lassen. Darum nehmen viele Mitglieder, Männer und Frauen, aktiv Anteil an der Barmer Synode (1934), die in Deutschland die Bekennende Kirche gründet und zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufruft. Sie unterzeichnen in Frankreich die Thesen von Pomeyrol (1941). Sie begleiten die Redaktion des Schuldbekenntnisses der deutschen Kirche 1945 (Stuttgarter Bekenntnis). Sie betreiben auch die Arbeiten an der verfassungsgebenden Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam. In der Folge waren viele Generalsekretäre und Verantwortliche des ÖRK vorher engagierte Mitglieder des WSCF, unter vielen anderen W. Visser‘t Hooft, Philippe Maury, Philip Potter und Konrad Raiser.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg führt der WSCF seine Aktivitäten für Gymnasiasten und Studenten fort. Er nimmt an den Bemühungen zur Versöhnung mit Deutschland teil, zum Beispiel 1960, als Jugendliche aus verschiedenen europäischen Ländern die Versöhnungskirche in Taizé aufbauen oder die Kathedrale von Coventry wieder errichten. Er hat Anteil an den Studentenbewegungen der 6oer Jahre. Einige Mitglieder sind mit der Befreiungstheologie verbunden, die nach dem 2. Vatikanischen Konzil in Lateinamerika einen großen Aufschwung erlebt.
Doch in den 60er Jahren, einer (vorläufigen) Zeit, in der das Wirtschaftswachstum besser gesichert erscheint, wo der Gedanke, dass demokratisches Engagement besser abgesichert ist und den Krieg vom europäischen Horizont abwendet, verändern sich die Universitäten und die Aktivitäten des WSCF entwickeln sich weiter.
Aber es ist offensichtlich, dass der WSCF solide Nachfolger gefunden hat, die in anderer Form die Forderungen wieder aufnehmen, die im Mittelpunkt des Abenteuers des Studentenbundes standen: der Ökumenische Rat der Kirchen, die Cimade in Frankreich, gewisse Kommissionen der Protestantischen Föderation Frankreichs, die Evangelischen Akademien in Deutschland, gewisse englische NGOs, die in den Universitäten (Oxfam) entstanden sind, usw.
Weiter im Rundgang
Bibliographie
- Bücher
- SMYTH-FLORENTIN Françoise, Pierre Maury – Prédicateur d’Evangile, Labor et Fidès, Paris, 2009
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