François Guizot (1787-1874)
Das Leben von François Guizot erstreckt sich fast über das ganze 19. Jahrhundert. Er wurde am 4. Oktober 1787 unter dem Ancien Régime in einer protestantischen Familie geboren und starb am 12. September 1874, als sich die Dritte Republik etablierte. Dieser Intellektuelle, der gleichzeitig auch ein Mann der Tat war, hat dem Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt. Guizot, der bedeutende Denker des französischen politischen Liberalismus, war auch der Philosoph der repräsentativen Regierungsform und der große Akteur der Julimonarchie. Sein Schulgesetz legte die Fundamente des französischen Schulsystems. Er war ein unermüdlicher Arbeiter und hat ein beträchtliches gedrucktes Werk und einen äußerst umfangreichen Briefwechsel hinterlassen.
Jugend (1787-1814)
- Nîmes und Genf (1787-1805)
Guizot wurde am 4. Oktober 1787 in Nîmes geboren, einen Monat vor der Verkündung des Toleranzedikts, mit dem den Protestanten Duldung gewährt wird. Er war der Sohn eines Advokaten, André Guizot, und der Enkel von Jean Guizot, eines Pfarrers im Désert (ein Begriff, mit dem ausgedrückt wird, dass die Protestanten seit der Aufhebung des Edikts von Nantes ein Leben im Untergrund führten).
Die Familie begrüßt die Revolution 1789 mit Begeisterung. Aber André Guizot ist Girondist und wird unter der Schreckensherrschaft zum Tod verurteilt. Seine beiden Söhne im Alter von sieben und fünf Jahren, François und Jean-Jacques, werden zu dem Gefängnis in Nîmes gebracht, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Nun ist die junge Witwe Elizabeth Sophie Guizot mit neunundzwanzig Jahren allein für ihre Kinder verantwortlich. Sie nimmt sie von 1799 bis 1805 mit nach Genf, damit sie eine gute Erziehung erhalten. Diese ihrem Temperament nach leidenschaftliche, autoritäre, dabei sehr religiöse Frau übte auf ihren ältesten Sohn einen nachhaltigen Einfluss aus.
- Die Anfänge in der Literatur und an der Universität (1805-1814)
1805 kommt Guizot mit achtzehn Jahren allein mit sehr geringen Finanzmitteln zum Jurastudium nach Paris. Er verlässt die mütterliche Obhut und die gewohnte Umgebung in Nîmes. Seine Mutter hofft, er werde nach Nîmes zurückkommen und in die Fußstapfen seines Vaters treten. Guizot fühlt sich jedoch nicht zu den Rechtswissenschaften hingezogen und verspürt auch nicht den Wunsch, in seine Geburtsstadt zurückzukehren. Sein Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als er zwei Persönlichkeiten trifft, die dem jungen Mann ihre Kultur und ihre Beziehungen bieten können, und zwar Philipp Albert Stapfer, ehemaliger Minister der Helvetischen Republik, und Jean-Baptiste Suard, Mitglied der Académie und Gründer des Publiciste.
1812 heiratet Guizot die vierzehn Jahre ältere Pauline de Meulan, eine liberale Adlige des Ancien Régime. Diese hochintelligente Frau lebt von ihrer Feder. Gleich zu Anfang ihrer Ehe bringen sie zusammen Les Annales de l’éducation (1811-1813) heraus. Damit beginnt eine glückliche Beziehung und eine lange intellektuelle Zusammenarbeit, die bis zum Tod von Pauline im Jahre 1827 dauert. Sie hatten einen Sohn, François, der 1837 mit einundzwanzig Jahren starb.
Am Ende desselben Jahres wird Guizot, dessen Ruf stetig wächst, zum ordentlichen Professor des Lehrstuhls für neuere Geschichte an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät in Paris ernannt.
Die Restauration (1814-1830)
- Erste politische Erfahrungen (1814-1820)
Als die Bourbonen zurückkehren, gibt Guizot seine Lehrtätigkeit auf und bekleidet hohe Verwaltungsämter. Er ist zu jung, um zum Abgeordneten gewählt zu werden, denn dazu muss man vierzig Jahre alt sein. Und so übt er seinen politischen Einfluss inoffiziell aus, als Berater mehrerer Minister. In dieser Zeit entsteht die Gruppe der Doktrinäre. Im Gegensatz zur ultraroyalistischen Aristokratie, die von einer Rückkehr zum Ancien Régime träumt, bemühen sich diese Liberalen durch eine liberale Umsetzung der Charte um eine neue Regierungsform, die der aus der Revolution hervorgegangenen neuen Gesellschaft angemessen ist.
Guizot erweist sich sehr schnell als die treibende Kraft dieser Bewegung. Als Protestant aus der Mittelschicht hält er an den Idealen von 1789 fest, was die bürgerlichen Rechte und Freiheiten betrifft. Wie seine liberalen Freunde ist er ein Gegner der Demokratie, die für ihn revolutionäre Anarchie und Despotismus bedeuten. Er will ein repräsentatives Regierungssystem errichten, das sich auf die Kapazitäten stützt, d. h. die Personen, die fähig sind, verständig zu handeln. Diese werden nach dem Zensuswahlrecht gewählt. Die Regierungsentscheidungen müssen der Kontrolle durch die Kammern unterliegen, mit weitgehender Information der Öffentlichkeit. So hofft Guizot, die Souveränität der Vernunft in der Gesellschaft gegen die Volkssouveränität durchzusetzen.
- Ein großer Intellektueller (1820-1830)
Die Ermordung des Herzogs von Berry 1820 bringt die ultraroyalistische Partei wieder an die Macht. Guizot setzt sich an die Spitze der liberalen Opposition. Er wird von allen seinen Ämtern abberufen. Nun beginnt die Zeit seines größten geistigen Schaffens als politischer Denker und als Historiker. In der Zeit zwischen 1820 und 1822 veröffentlicht er seine berühmtesten politischen Werke, in denen er sich für die konstitutionelle Monarchie ausspricht, und hält eine Vorlesungsreihe über das Thema „Histoire du gouvernement représentatif“ (Geschichte des repräsentativen Regierungssystems). Die Regierung setzt seine Vorlesungen von 1822 bis 1828 aus. Da schreibt er das Werk „Histoire de la Révolution d’Angleterre“, denn wie seine Zeitgenossen sieht auch er in der Geschichte der englischen Revolution eine Vorwegnahme der Geschichte Frankreichs mit einer dauerhaften Einführung der konstitutionellen Monarchie.
1828 öffnen sich die politischen Perspektiven wieder. Guizot nimmt seine Vorlesungen an der Sorbonne wieder auf, unter dem Applaus seines jugendlichen Publikums, das sich drängt, um diesem Ereignis beizuwohnen. Zur Verbreitung seiner Ideen beteiligt er sich an der Gründung des Globe und ruft die Revue française ins Leben, die er von 1828 bis 1830 leitet. Da er inzwischen das gesetzliche Alter erreicht hat, tritt er im Januar 1830 bei den Wahlen im Arrondissement Lisieux im Calvados an. Achtzehn Jahre lang wird er der Abgeordnete dieses Wahlkreises bleiben. Der Einfluss von Guizot ist an seinem Zenith angelangt.
Die Julimonarchie (1830-1848)
Die Julirevolution brachte eine konstitutionelle Monarchie nach den Vorstellungen von Guizot. Er ist der Philosoph des neuen Regimes und wird auch dessen wesentlicher Akteur. In der Hoffnung, so der repräsentativen Monarchie die nötige Zeit und Stabilität zu verschaffen, um ihr Überleben zu sichern, stellt sich Guizot auf die Seite der Partei des Widerstands, gegen die Partei der Bewegung.
- Minister für das staatliche Unterrichtswesen (1832-1837)
Nachdem er 1830 kurz Innenminister gewesen war, wird Guizot ab 1832 Minister für das staatliche Unterrichtswesen und bleibt es fast ununterbrochen bis 1837. Mit seinem Gesetz vom 28. Juni 1833 führt er die Gemeindeschule ein. Jede Gemeinde muss eine Knabenschule finanzieren und einen Lehrer unterhalten. Guizot dachte auch an die Mädchen, aber sein Vorschlag fand bei den Abgeordneten keine Zustimmung. Er sieht ein Volksschullehrerseminar in jedem Departement vor und richtet das Kontrollorgan der Schulinspektoren ein.
In diesem Amt hat Guizot noch weitere Einrichtungen geschaffen, die sich bis heute erhalten haben. Zur Pflege der Gedenkstätten in Frankreich schafft er eine Generalinspektion der Geschichtsdenkmäler. In dem gleichen Bestreben, die Verbundenheit der Franzosen mit ihrer nationalen Vergangenheit fördern, gründet Guizot die Société de l’histoire de France (Gesellschaft für die Geschichte Frankreichs) und das Comité des travaux historiques et scientifiques (Komitee für historische und wissenschaftliche Arbeiten), um bisher unveröffentlichte Dokumente zu erforschen und zu veröffentlichen. Schließlich eröffnet Guizot auch wieder die Académie des Sciences morales et politiques, die von Napoleon geschlossen worden war.
In dieser Zeit verliert Guizot seine zweite Frau, Eliza, im Alter von neunundzwanzig Jahren, nach der Geburt ihres dritten Kindes. Sie war die Nichte von Pauline de Meulan, wesentlich jünger als ihr Mann und unterhielt mit Guizot eine sehr leidenschaftliche Beziehung. Der Witwer Guizot war trotz seiner Regierungsaufgaben ein bemerkenswert fürsorglicher Vater. Seine damals bereits siebzigjährige Mutter übernahm die tägliche Erziehung ihrer Enkel.
- Guizot an der Macht (1840-1848)
Nach einer kurzen Zeit in der Opposition wird Guizot zum französischen Botschafter in London ernannt. Einige Monate später wird er Außenminister anstelle von Thiers, dessen kriegerische Politik gegenüber England in der Orientfrage Louis-Philippe beunruhigte. Guizot bekleidete dieses Amt bis zur Revolution 1848. Wenn auch dem Titel nach erst ab September 1847, ist er auch der tatsächliche Chef der nominell von Marschall Soult geleiteten Regierung.
Die Außenpolitik von Guizot eine Friedenspolitik. Vorrangig für ihn ist ein gutes Verhältnis zu England, mit dem Frankreich oft Krieg geführt hatte. In zahlreichen Fragen besteht noch Uneinigkeit, denn in verschiedenen Gebieten der Erde stehen sich die beiden Mächte feindlich gegenüber. Mit der Hilfe seines englischen Amtskollegen George Aberdeen, des Leiters des Foreign Office, arbeitet Guizot diplomatische Konfliktlösungen aus. Es ist die erste Entente cordiale.
Innenpolitisch will Guizot das repräsentative Regierungssystem durch eine Politik der Stabilität stärken. Dies veranlasst ihn zur Unbeweglichkeit gegenüber den Forderungen nach einer Reform und Ausweitung des Wahlrechts. Guizot wird in der Kammer heftig angegriffen, aber als außergewöhnlicher Redner, zu dessen Reden sich alles drängt, was in Paris Rang und Namen hat, erweist er sich durch seine Schlagfertigkeit als seinen Gegnern überlegen. Die Wahlen von 1846, die sehr günstig für ihn ausfallen, bestärken ihn in seiner konservativen Politik. Er spürt nicht die Entwicklung des Zeitgeists. 1847 antwortet Guizot auf neuerliche Forderungen nach Wahlreformen wiederum mit Ablehnung. Die Vertreter dieser Forderungen starten daraufhin eine Bankettkampagne nach englischem Muster, mit der sie sich direkt an die öffentliche Meinung wenden. Die Bewegung entgleitet der Kontrolle ihrer Führer. In Paris verwandelt sich das letzte Bankett im Februer 1848 in eine Revolution. Guizot muss nach England flüchten.
Die Jahre der Zurückgezogenheit (1848-1874)
Als Guizot 1849 nach einer Wahlniederlage nach Frankreich zurückkommt, unternimmt er keinen Versuch mehr, wieder an die Macht zu gelangen, aber er bleibt weiterhin einflussreich und aktiv. Im politischen Bereich bemüht er sich um die Zusammenführung der beiden dynastischen Linien, der Bourbonen und der Orleanisten.
Dies ist für Guizot auch eine Zeit großer intellektueller Aktivität. Er besitzt kein persönliches Vermögen und lebt von seiner Feder. Nach der Veröffentlichung seiner Mémoires verfasst Guizot drei Werke über die christliche Religion, für die er die Form der Méditations wählt. Im Alter von achtzig Jahren schreibt er dann seine Histoire de France racontée à mes petits-enfants, die nach seinem Tod von seiner Tochter Henriette abgeschlossen und zu einem der großen Bucherfolge der damaligen Zeit wird.
Als einflussreiches Mitglied der Académie française, der er seit 1836 angehört, befasst sich Guizot aktiv mit den Wahlen zu dieser Institution. Seine Antworten auf die Reden der neu aufgenommenen Mitglieder werden von den gebildeten Kreisen in Paris mit Spannung erwartet. Zu seiner Rede anlässlich der Aufnahme von Lacordaire, des Nachfolgers von Tocqueville, kommt sogar Kaiserin Eugénie !
In diesen Jahren ist Guizot auch in der Reformierten Kirche sehr aktiv. Er vertritt die Kirche gegenüber den Behörden und erreicht, dass 1872 eine Generalsynode einberufen wird. Innerhalb des Protestantismus, der damals sehr zersplittert ist, steht Guizot auf der Seite der Orthodoxen. Zusammen mit den katholischen Liberalen und den Protestanten setzt er sich jedoch auch für das Überleben des Christentums angesichts des sich ausbreitenden Atheismus ein.
Die letzten Lebensjahre verbrachte Guizot in seinem Haus in der Normandie, im Kreise seiner großen Familie. Dort starb er am 12. September 1874, im Alter von sechsundachtzig Jahren. Seine geistige Wirkung hielt in der Dritten Republik an und seine Ideen haben zahlreiche Politiker und große Historiker der nachfolgenden Generation beeinflusst.
Bibliographie
- Bücher
- THEIS Laurent, François Guizot, Fayard, 2008, p. 556
Dazugehörige Rundgänge
-
Die Erziehung in der protestantischen Welt seit der Revolution
Nach der Französischen Revolution wird mit den Lyceen und Grandes Écoles (Elitehochschulen) nach und nach ein öffentliches Bildungssystem eingeführt. An den großen Schul- und Universitätsreformen der 3. Republik sind die...
Dazugehörige Vermerke
-
Die Zeit der Spaltungen
In der Zweiten Republik wird die Wiederherstellung des Synodalsystems ins Auge gefasst, aber nicht zum Abschluss gebracht. Napoleon III. stellt 1852 die lokalen Kirchen wieder her, aber das anhaltende Fehlen... -
Die Protestanten und das staatliche Unterrichtswesen
Die beiden wichtigsten Epochen des 19. Jahrhunderts, in denen die Protestanten maßgeblich an der Entwicklung des (im Kaiserreich eingerichteten) öffentlichen Unterrichtswesens beteiligt waren, sind die Julimonarchie und die Dritte Republik.... -
Die Restauration (1814-1830)
Die Verfassung von 1814 ist nicht eindeutig. Einerseits sichert sie allen Konfessionen staatlichen Schutz zu, andererseits erklärt sie jedoch den katholischen Glauben zur „Staatsreligion“. Der Weiße Terror des Jahres 1815... -
Das Zweite Kaiserreich
Die Haltung der Protestanten gegenüber Louis-Napoleon und dem Zweiten Kaiserreich ist zwiespältig. Insgesamt erscheint das Regime als zu autoritär und klerikal, zumindest in den ersten Jahren. Dagegen hat es die... -
Die Vorschulen
Im 19. Jahrhundert erfolgte, sicherlich unter dem Einfluss von J.J. Rousseau, für den die Kunst der Erziehung auf der wissenschaftlichen Kenntnis des Kindes beruhen muss, die « Entdeckung des Kindes ». Prägend... -
Die Akademien der Reformierten des 16. und 17. Jahrhunderts
Bereits 1565 beschäftigten sich die Synoden der reformierten Kirchen mit der Ausbildung ihrer Pfarrer und mahnten die Kirchen, „Höhere Schulen“ (als Voraussetzung für ein Hochschulstudium) sowie Universitäten oder „Akademien“ (nach... -
Die Protestanten im öffentlichen Leben
Eines der Merkmale des französischen Protestantismus im 19. Jahrhundert ist die Dynamik, die von der protestantischen Gemeinschaft ausgeht. Dabei sind zwei Momente von herausragender Bedeutung : die Julimonarchie, mit Guizot, und...