Die Abhandlung über Reliquien von Jean Calvin (1543)

Der Kontext der Abhandlung über Reliquien

Abhandlung über die Reliquien von Calvin

Nach einem mehr als dreijährigen Aufenthalt in Basel und Straßburg kehrte Calvin 1541 nach Genf zurück und widmete sich dem Schreiben und der Seelsorge. In den frühen 1540er Jahren beschäftigte Calvin die Zukunft der Kirche. Er wollte vor allem die reformierte Gemeinde in Genf festigen und die Kirche von allen menschlichen Werken reinigen, die ihm die Herrlichkeit Gottes zu verdunkeln scheinen (siehe die Einleitung der Ausgabe von I. Backus). Im Jahre 1543 lässt er vier Texte veröffentlichen:

La Défense de la doctrine du serf arbitre : eine polemische Abhandlung gegen den katholischen Theologen Albert Pigge, in dem Calvin behauptet, dass der Mensch nicht gerettet werden könne, wenn er Gott nicht voll vertraue.
La Supplication et remontrance sur le fait de la chrétienté et de la réformation d’Église faite à l’Empereur : ein offizielles Schreiben, das sich an Karl V. wendet. Calvin fordert ihn darin auf, eine Kirchenreform durchzuführen und rühmt einen von „menschlichem Aberglauben“ befreiten Gottesdienst;
Petit traité montrant que doit faire un homme fidèle entre les papistes : ein Schreiben, das sich an die Gläubigen richtet, um sie aufzufordern, der „papistischen Idiolatrie“ nicht nachzugeben, selbst wenn sie sich an einem Ort ohne reformierte Gottesdienste befinden;
Die Abhandlung über Reliquien (Traité des reliques): eine Schrift, die ebenfalls für die Gläubigen bestimmt ist. Calvin macht sich in schonungsloser Ironie und Schärfe über den Reliquienkult lustig, und versucht dadurch, die Gläubigen von der Verehrung von Reliquien abzubringen.

Die spöttischen Anschuldigungen falscher Reliquien hat in der Kirchengeschichte eine lange Tradition. Mit der Entwicklung der devotio moderna nimmt sie jedoch eine klare theologische Wendung. Schon Erasmus zum Beispiel misstraute diesem Aberglauben. Durch das Aufkommen der Reformation kristallisieren sich Gegenpositionen heraus: Luther und Calvin prangern den Reliquienhandel und die damit verbundenen Götzenverehrungen an, während das Konzil von Trient ihre Verehrung rechtfertigt (siehe die Einleitung der Ausgabe von O. Millet).

Redaktioneller Erfolg

Calvins Abhandlung über Reliquien hatte großen und unmittelbaren Erfolg. Im 16. Jahrhundert wurde sie in Dutzenden von Auflagen auf französisch, lateinisch, deutsch, englisch und flämisch veröffentlicht. Sie wurde bereits 1543 in den Index librorum prohibitorum der theologischen Fakultät in Paris aufgenommen. Der sofortige Erfolg und die schnelle Zensur erklären sich durch den ironischen Ton, den Calvin mit seiner langen, nur scheinbar objektiven Beschreibung der Reliquien anschlägt: Er zählt zum Beispiel 14 Kreuznägel!

Der vollständige Titel des Werkes ist: Avertissement très utile du grand profit qui reviendrait à la chrétienté s’il se faisait inventaire de tous les corps saints et reliques qui sont tant en Italie, qu’en France, Allemagne, Espagne et autres royaumes et pays. (Sehr nützliche Warnung, welch großer Gewinn dem Christentum entstehen könnte, wenn es ein Register gäbe, das aus allen heiligen Körpern und anderen Reliquien bestünde, die in Italien wie Frankreich, Deutschland, Spanien und anderen Königreichen und Ländern vorhanden sind.) Man kann die Originalausgaben noch in Paris, Aix-en-Provence, Genf, Wolfenbüttel, Cambridge u.a. einsehen. Die BNF (Bibliothèque Nationale de France) in Paris besitzt ein Exemplar der Ausgabe von 1601 (Pontorson : J. de Fevre, 88 pages ; cote D2-4242). Die Bibliothek der Gesellschaft der Geschichte des französischen Protestantismus (Bibliothèque de la Société d’Histoire du Protestantisme Français) besitzt drei Exemplare: Die Edition von 1588 (ohne Erscheinungsort), die von 1599 (Genf: P. De la Rovière) und die von 1601 (Pontorson: J. de Fèvre). Es gibt außerdem mehrere neue Ausgaben, darunter die von Olivier Millet (Calvin, Œuvres choisies, Paris, Gallimard, 1995) und von Irena Backus (Traité des reliques, Genève, Labor et Fides, 2000).

Die letztgenannte Ausgabe diente als Grundlage für die hier ausgewählten [französischen] Textauszüge. Sie geben sowohl Calvins Spott als auch seine scharfe Haltung gegen die Verehrung der Reliquien wieder, indem er auf deren übermäßige Anzahl hinweist (Auszug 1), und betont, dass die Bibel nicht davon spricht (Auszug 2), sowie die Teile der heiligen Körper anprangert, die in ganz Europa verteilt sind (Auszug 3). Die Argumentation ist abwechselnd juristisch, historisch und theologisch. Doch der Gesamtstil der Abhandlung, der einer langen Auflistung von gleicht, die der Autor mit gespielter Genauigkeit aufzählt und geografisch verortet, stellt die Schrift zweifellos in den Kontext der antikatholischen Polemik.

Zusammenfassung der Abhandlung

Die Abhandlung über Reliquien ist in zwei sehr unterschiedliche Teile gegliedert. Einleitung, Schluss und mehrere Passagen der Erörterung beschäftigen sich einerseits damit, zu erklären, dass die Reliquien „Lügen“ sind. Andererseits besteht der Hauptteil des Textes seinerseits aus einer langen Liste von Reliquien mit Angaben zu ihrem Aufbewahrungsort.

In dem Abschnitt, in dem es darum geht, die Gläubigen von der Verehrung der Reliquien abzubringen, führt Calvin mehrere Argumente an. Zunächst einmal soll man das Wort Christi seinen „Hemden“ oder „Schuhen“ vorziehen, denn die Übertragung der Ehrung Gottes führt zum Götzendienst. Außerdem sind die meisten Reliquien nicht durch die Bibel belegt und konnten die verschiedenen Zerstörungen Jerusalems nicht überstehen (der Abendmahlstisch, in Rom). Sie wurden nach dem 1. Jahrhundert geschaffen und sind daher entweder falsch (der Arm des heiligen Antonius, in Genf), anachronistisch (die Würfel der römischen Soldaten) oder widersprüchlich (die drei Vorhäute Christi, in Rom, Charroux und Hildesheim). Zudem führen Reliquien zwangsläufig zu Streitigkeiten zwischen den Christen im Westen (das Kreuz, das Konstantin erschien, soll sich in Brescia oder Cortona befinden), aber auch mit den Kirchen im Osten (deren Meinungen über heilige Körper sicherer sind als die in Europa formulierten Hypothesen). Schließlich besteht die unvermeidliche Gefahr, jeden Gegenstand zu einer Reliquie zu machen (das Anbeten des Gewands eines Räubers, des Knochens eines Hundes oder des Rings eines Mädchens), oder die Werkzeuge der Passion zu verehren (die Lanze, die Nägel, die Dornen, aber auch die Steine des heiligen Stephan oder die Pfeile des heiligen Sebastian).

Der zweite Teil des Buches besteht aus einem umfassenden Überblick über die Reliquien, die im katholischen Europa des 16. Jahrhunderts verehrt wurden. Calvin erkennt, dass es sich um einen riesigen „Wald“ handelt, aus dem man möglicherweise nicht mehr herauskommt; deshalb geht er methodisch vor. Zuerst Christus: seine Zähne, sein Haar, sein Blut, seine Wiege, die Säule, auf die er sich beim Streit im Tempel stützte, die Hydrien (Krüge) von Kanaan, das Brot, das Kreuz, das Schweißtuch, die Judas-Denare, schließlich die Kruzifixe, denen ein Bart wächst oder deren Augen weinen. Dann die Jungfrau Maria: ihre Knochen, ihr Haar, ihre Milch, ihr Gewand, ihren Gürtel, ihren Pantoffel, ihre Kämme. Calvin geht dann auf die Heiligen ein, die Jesus umgaben: der Heilige Johannes der Täufer und die Teile seines Kopfes, seinen Kiefer, sein Ohr, seinen Finger; der Heilige Petrus mit seinem Körper, seinem Kopf, seinen Zähnen, seinem Gehirn und seinem Bischofsstuhl; der Heilige Paulus mit seinem Körper, seiner Schulter, seinen Knochen und der Kette, mit der er angekettet wurde. Abschließend widmet Calvin kürzere Passagen der Erwähnung der Reliquien anderer Heiliger: Thomas, Denis, Stephanus, Laurentius, Gervasius, Protais, Petronella, Helena, Hilarius, Honorat, Symphorien, usw.

Von mehreren von ihnen gibt es so viele Reliquien, dass man laut Calvin mehrere menschliche Körper rekonstruieren könnte: Andreas, Jakobus der Ältere sowie Jakobus der Jüngere, Philippus, Simon, Anna, Lazarus, Magdalena, Sebastian, Antonius, usw.

Der „Große Kampf um die Nägel“: Das Leiden Christi (Auszug 1)

„Außerdem gibt es einen größeren Kampf um die Nägel. Ich werde die auflisten, von denen ich Kenntnis habe. (…) Wenn die alten Schriftsteller und namentlich Theodorit, der Geschichtsschreiber der alten Kirche, glaubhaft sind, ließ Helena einen Nagel in den Helm ihres Sohnes einlassen; die beiden anderen brachte sie am Gebiss ihres Pferdes an. Der heilige Ambrosius berichtet allerdings ganz anders, denn er sagt, dass der eine in die Krone Konstantins gesetzt wurde; aus einem anderen das Gebiss des Pferdes gemacht wurde; und dass Helena den dritten behielt.

Wir sehen, dass es schon vor mehr als zwölfhundert Jahren Streit darüber gab, was aus den Nägeln geworden ist. Welche Gewissheit können wir also jetzt haben? Nun rühmen sie sich in Mailand, dass sie den Nagel haben, der am Gebiss des Pferdes von Konstantin angebracht wurde. Die Stadt Carpentras widerspricht dem und sagt, dass sie ihn habe. Ambrosius sagt aber nicht, dass der Nagel am Gebiss befestigt wurde, sondern dass das Gebiss daraus gemacht wurde. Dies kann keineswegs mit dem übereinstimmen, was sowohl die Leute von Mailand als auch die Leute von Carpentras sagen.

Danach gibt es einen in Rom, in St. Helena, einen weiteren dort in der Heilig-Kreuz-Kirche, einen weiteren in Siena, einen weiteren in Venedig, in Deutschland zwei, einen in Köln in den Drei-Marien und einen in Trier. In Frankreich: einen in der Sainte-Chapelle in Paris, einen bei den Karmelitern, einen anderen in Saint-Denis-en-France, einen in Bourges, einen in La Tenaille, einen in Draguignan. Das macht zusammen vierzehn Nägel (…)“.

„Wenn die Heilige Jungfrau eine Kuh gewesen wäre“: Die Haare und die Milch Mariens (Auszug 2)

„Was die Jungfrau Maria betrifft, so wird ihnen, weil sie behaupten, dass ihr Körper nicht mehr in der Erde ist, das Mittel genommen, sich zu rühmen, dass sie ihre Knochen haben. Andernfalls vermute ich, hätten sie uns wohl glauben machen wollen, sie habe einen Körper gehabt, der ein großes Massengrab füllte. Im Übrigen stürzen sie sich auf ihr Haar und ihre Milch, um etwas von ihrem Körper zu bekommen. Von ihren Haaren gibt es welche in Rom, in Sainte-Marie-sus-Minerve, in Saint-Salvador in Spanien, in Mâcon, in Cluny, in Noyers, in Saint-Flour, in Saint-Jacquerie und an vielen anderen Orten.

Es wäre ein eigener Beruf, die Orte aufzulisten, an denen es Milch der Heiligen Jungfrau gibt. Und auch das wird nie möglich sein. Denn es gibt kein noch so kleines Städtchen und keine noch so böse Klostergemeinschaft, weder bei den Mönchen noch bei den Nonnen, wo man ihre Milch nicht zeigt, die einen mehr, die anderen weniger. Nicht weil sie sich schämten, damit zu prahlen, dass sie sie in großen Mengen hätten, sondern weil sie der Meinung sind, dass ihre Lüge besser gedeckt wäre, wenn sie nur so viel davon hätten, wie in eine Uhr aus Glas oder Kristallglas passt, damit man sie nicht näher untersuchen kann. Es gibt so viel Milch, dass sie, selbst wenn die Heilige Jungfrau eine Kuh gewesen wäre und ihr ganzes Leben lang Amme gewesen wäre, kaum so viel hätte abgeben können.

Andererseits würde ich gerne fragen, wie diese Milch, die heute überall gezeigt wird, gesammelt wurde, um sie bis in unsere Zeit aufzuheben. Denn wir lesen nicht, dass sich das je einer schon überlegt hätte. Es wird zwar gesagt, dass die Hirten Jesus Christus angebetet haben, dass die Weisen ihm ihre Geschenke dargebracht haben, aber es wird nicht gesagt, dass sie Milch als Belohnung mit nach Hause gebracht haben. Der Evangelist Lukas berichtet zwar, was Simeon der Jungfrau Maria vorhersagte, aber er sagt nicht, dass er sie um ihre Milch bat. Wenn man nur diesen einen Punkt betrachtet, muss man schon nicht mehr weiter argumentieren, um zu zeigen, wie sehr dieser Wahnsinn gegen alle Vernunft unhaltbar ist (…)“.

„Man erinnere sich an das Gehirn des Heiligen Petrus“: die Reliquien der Apostel (Auszug 3)

„Nun kommen die Apostel an die Reihe. Aber weil die Menge Verwirrung stiften könnte, wenn ich sie alle zusammenbrächte, wollen wir den Heiligen Petrus und den Heiligen Paulus gesondert nehmen (…). Ihre Körper befinden sich in Rom, die eine Hälfte in der Kirche St. Peter, die andere Hälfte in St. Paul. Und man erzählt, dass der Heilige Silvester sie gewogen hat, um sie so in gleiche Portionen zu verteilen. Die beiden Köpfe befinden sich auch in Rom, im Lateran, wiewohl in derselben Kirche ein Zahn des Heiligen Petrus gesondert aufbewahrt wird.

Nach all dem lässt man es sich nicht nehmen, überall Knochen zu besitzen: wie in Poitiers den Kiefer mit dem Bart, in Trier mehrere Knochen des einen und des anderen, in Argenton en Berry eine Schulter des Heiligen Paulus. Und wann soll dies geschehen sein? Denn überall, wo es eine Kirche gibt, die ihre Namen trägt, gibt es auch Reliquien von ihnen. Wenn man fragt, welche, so möge man sich an das Gehirn des Heiligen Petrus erinnern, von dem ich gesprochen habe, das im großen Altar dieser Stadt lag. So wie man herausgefunden hat, dass es ein Schwammstein war, so würde man auch viele Knochen von Pferden oder Hunden finden, die man diesen beiden Aposteln zuschreibt.

Mit den Körpern geht es so weiter. In San Salvador in Spanien haben sie einen Pantoffel; über Form und Material kann ich nichts sagen. Aber es ist anzunehmen, dass es eine ähnliche Ware ist wie die, die sie in Poitiers haben, diese sind aus einem mit Gold bestickten Satin. So wird er nach seinem Tod reich gemacht, um ihn für die Armut zu belohnen, die er sein Leben lang gehabt hat. So wie die Bischöfe von heute so niedlich sind, wenn sie sich in ihr Pontifikat stellen, scheinen sie zu glauben, es sei unter der Würde der Apostel, wenn man es ihnen nicht gleich täte“.

Autor: Paul-Alexis Mellet

Bibliographie

  • Bücher
    • BACKUS Irena, Traité des reliques, Labor et Fides, Genève, 2000, p. 7-17
    • BURGER Christoph, Der Kölner Karmelit Nikolaus Balnckaert verteidigt die Vererhung des Reliquien gegen Calvin (1551), In Auctoritas Patrum II. Neue Beträge zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert, Mainz, 1998, p. 27-49
    • CALVIN Jean, Oeuvres choisies, Olivier Millet - Gallimard, 1996
    • CALVIN Jean, Traité des reliques, Labor et Fides, 2000
    • GILMONT Jean-François, Bibliotheca Calviniana. Les oeuvres de Jean Calvin publiées au XVIe siècle, Ecrits théologiques, littéraires et juridiques (1532-1554), Droz, Genève, 1991, Tome 1

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Jean Calvin (1509-1564)

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