Die Familie Hottinguer
Die aus Zürich stammende Familie Hottinguer brachte eine Reihe protestantischer Pfarrer, Intellektueller und Bankiers hervor. Im 18. Jahrhundert bildeten sich zwei Berufszweige heraus, die Pastoren und die Kaufleute. Zu diesem zweiten Zweig gehören Bankiers, die mehr als zwei Jahrhunderte lang an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Wahlheimat Frankreich mitgewirkt haben.
Pfarrer und Theologen
Klaus Hottinger (1467-1524), ein Schüler Zwinglis, war der erste Märtyrer der schweizerischen protestantischen Bewegung. Zur Familie zählten Theologen wie Johann Heinrich Hottinger (1620-1667) oder Gelehrte wie Klaus‘ Enkel Hans-Heinrich (1620-1667), bekannt unter dem Namen Johann-Heinrich Hottinger. Dieser war ein berühmter Orientalist, Historiker und Theologe sowie Dekan der Universität Heidelberg.
Sébastien Hottinger (1538-1600), ein Bruder Hans-Heinrichs, war Arzt und Züricher Gemeinderat. Sein Enkel Hans-Rudolf Hottinger (1600-1670) begründete einen neuen, kirchlichen Familienzweig. Sowohl sein Sohn Rudolf (1642-1692) als auch sein Enkelsohn Hans-Rudolf (1673-1732) waren Pfarrer.
Und Bankiers
Hans-Konrad Hottinguer, Johann-Konrad (1764-1841) oder Jean-Conrad war erst 26 Jahre alt, als er in Paris, wohin ihn seine Familie als Praktikanten geschickt hatte, ein Bankhaus unter dem Namen „Messieurs Rougemont et Hottinguer“ eröffnete. Bereits 1787 wurde die Bank im Almanach Royal aufgeführt. Die Einrichtung an der Adresse „rue Croix-des-Petits-Champs“ im Hôtel Beaupréaux wurde 1790 in „Messieurs Hottinguer & Cie, banquiers à Paris“ umbenannt.
1793 des „royalistischen Verhaltens“ angeklagt, ging Johann-Konrad nach Zürich und dann nach England, wo er die in Newport (USA) geborene Martha Eliza Redwood heiratete. Sie war die Tochter eines amerikanischen Pflanzers. 1794 reiste das Paar in die Vereinigten Staaten, wo es eine Gruppe französischer Emigranten kennenlernte, darunter Talleyrand. Nach seiner Rückkehr nach Europa im Januar 1798 wurde Jean-Conrad, der schon sehr früh den Stellenwert der Banken in der Marktwirtschaft erahnte, 1803 zum Vorsitzenden der Banque de France ernannt. Mehr als ein Jahrhundert lang hatten die Hottinguers ununterbrochen einen Sitz in der Geschäftsführung inne.
Der Name „Hottinger“ wurde 1810 anlässlich der Erteilung des Titels „Baron d‘Empire“ zu „Hottinguer“ französisiert. 1818 gründete Jean-Conrad mit der Familie Delessert die Caisse d‘Epargne de Paris. 1819 erwarb er das Schloss „du Piple“ zwischen Boissy-Saint-Léger und Sucy-en-Brie. Die Familie Hottinguer bewohnte dieses Schloss in den ersten Jahren nur wenig.
Jean-Henri Hottinguer (1803-1866) studierte in London, New York und New Orleans, bevor er 1833 die Nachfolge seines Vaters antrat. Als bekannter Bankier, wie es seine Ernennung zum Vorsitzenden der Banque de France im selben Jahre bezeugt, wurde er zwei Jahre später Direktor der „Caisse d‘Epargne et de Prévoyance de Paris“, die sein Vater mit der Familie Delessert gegründet hatte. Er heiratete 1832 Caroline Delessert und übernahm die Bank Delessert 1848. Das Haus Hottinguer wurde zu einem der ersten internationalen, auf den Baumwollmarkt und die Kolonialwaren aus den Vereinigten Staaten spezialisierten Handelsunternehmen. 1835 beteiligte sich Jean-Henri Hottinguer zusammen mit der Familie Mallet an der Gründung der Zechen- und Eisenbahnengesellschaft von Épinac. So legte er den Grundstein für die bedeutende Rolle der protestantischen Bank in der Entwicklung der lothringischen Stahlindustrie.
Caroline Delessert Hottinguer stiftete aus ihren persönlichen Mitteln Wohltätigkeitsaktionen. Sie schuf einen Schlafsaal mit sechs Betten und sechs Babybetten für Frauen, die vor kurzem entbunden hatten und mittellos waren, einen Vorläufer des Mutterasyls. Das Schloss „du Piple“ wandelte sie in eine luxuriöse Residenz um. 1846 wurde hier ihr Sohn Henri-François geboren und aufgrund ihrer Verwurzlung in Boissy-Saint-Léger wurde Jean-Henri Bürgermeister der Stadt (1844-1852). Er beteiligte sich an der Finanzierung der Eisenbahnlinie von Paris-Bastille nach Boissy-Saint-Léger, die bis Brie-Comte-Robert verlängert wurde und an der die Compagnie de l‘Est (deren Verwalter er war) die Konzession hatte. Im September 1859 ging die Linie bis Saint-Maur, 1872 dann bis nach Sucy und Bonneuil.
Jean-Henri und seine Frau Caroline beteiligten sich am Projekt der SEIPP: „Gesellschaft zur Förderung des Grundschulunterrichts von Protestanten in Frankreich“. Der Verein war 1828 gegründet worden und förderte die Einrichtung von Schulen und die Ausbildung protestantischer Lehrer insbesondere für Mädchen, denn Mädchenschulen waren in Frankreich selten.
Jean-Henri stiftete diesem Verein (dessen Vizepräsident er war) Grundstücke und ein großes Gebäude, das er in eine Pädagogische Hochschule mit Internat für junge Mädchen umbauen ließ. Zu deren Unterhalt stiftete er eine jährliche Rente. 1859 wurde ein kleines Internat für Schüler zwischen 7 und 15 Jahren gegründet, das eine „kleine Berufsfachschule“ für die Lehramtsstudierenden darstellte.
Zur gleichen Zeit ermunterte Caroline Delessert, die im Dorf Passy (1860 an Paris angegliedert) aufgewachsen war und dort noch mehrere Immobilien besaß, den Pfarrer und Missionar Eugène Casalis, in den aus ihrer Kindheit stammenden Besitztümern eine Sonntagsschule einzurichten und dort den ersten Gottesdienst der späteren protestantischen Gemeinde von Passy-Annonciation (1856) zu leiten.
Das Ehepaar Hottinguer ließ in Boissy-Saint-Léger eine protestantische Kirche oder „evangelische Kapelle“ errichten, die sowohl als Kapelle des Schlosses „du Piple“ und der Pädagogischen Hochschule als auch den Protestanten der Umgebung als Gotteshaus diente.
Caroline Hottinguer beauftragte Rodolphe, ihren ältesten Sohn und Testamentsvollstrecker, sich um die Gemeinde von Passy zu kümmern. Ein Jahr nach ihrem Tod wurde der Kauf des Grundstücks in der rue Cortambert im 16. Arrondissement von Paris besiegelt, wo später die protestantische Kirche von Passy errichtet wurde. Der Pastor Casalis, der im Jahr 1891 im Alter von 79 Jahren starb, war bis 1878 alleiniger Pfarrer in Passy, anschließend wurde er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1882 von einem zweiten Pfarrer unterstützt.
Caroline Delessert, Gräfin Hottinguer, ruht im Familiengrab der Hottinguers in Boissy-Saint-Léger im Gegensatz zu den meisten Familienmitgliedern Delessert, die auf dem Friedhof von Passy beigesetzt wurden, seit die Gräber im Jahr 1959 dorthin verlegt wurden.
Rodolphe Hottinguer (1835-1920) erhielt seine Ausbildung in Liverpool, in Russland und in den Vereinigten Staaten. 1867 heiratete er Marie-Louise de Bethmann. Bevor er von 1869 bis 1920 der „Banque de France“ vorstand, hatte er 1862 Anteil an der Gründung der ottomanischen Bank. 1870 war er in der Direktion der „Caisse d‘Epargne“ in Paris.
Die Familie existiert auch heute noch.
Bibliographie
- Bücher
Dazugehörige Vermerke
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