Seit Jahrhunderten ein Dorf des Asyls
Die Gemeinde Le Chambon-sur-Loire liegt an der Grenze zwischen den Departements Haute Loire und Ardèche, im Herzen des Plateaus von Vivarais-Lignon. Die große Mehrheit ihrer Einwohner, wie auch die der benachbarten Gemeinden, sind Protestanten und von Alters her gewohnt, Verfolgten und Armen Aufnahme und Asyl zu gewähren, z. B. Priestern, die in der Zeit der Französischen Revolution den Eid auf die Verfassung verweigerten („prêtres réfractaires“), Kindern aus den ärmlichen Verhältnissen der Bergwerksreviere von Saint Étienne, die in dem von Pfarrer Louis Comte am Ende de 19. Jahrhunderts gegründeten Hilfswerk „Enfants à la Montagne“ („Kinder in den Bergen“) untergebracht wurden.
Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs finden zahlreiche Flüchtlinge bei den Bewohnern des Plateaus Zuflucht. Traditionell republikanisch gesinnt, wurden sie von ihren Pfarrern auf die Gefahren des Totalitarismus und des Antisemitismus aufmerksam gemacht. Nacheinander kommen zwischen 1937 und 1939 in mehreren Wellen die vor dem Bürgerkrieg geflohenen Familien der spanischen Republikaner sowie die ersten österreichischen und deutschen Flüchtlinge, die auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus sind. Im Oktober 1938 dankt der ehemalige Pfarrer und nunmehr Bürgermeister von Chambon, Charles Guillon, in einem an die Einwohner gerichteten Schreiben Letzteren dafür, dass sie alle Flüchtlinge aus den mitteleuropäischen Ländern uneigennützig aufgenommen und sich darauf eingestellt haben,“ in Euren Häusern Hunderte von Kindern aufzunehmen, die man Euch anvertrauen möchte, um sie in Sicherheit zu bringen“ (« s’être préparés à recevoir dans vos maisons des centaines d’enfants que l’on voudrait vous confier pour les mettre à l’abri »).
Die größte Aktion zur Rettung von Juden in Frankreich unter der Okkupation
Es sind vor allem Juden, zunächst solche ausländischer Herkunft, dann auch französische, die durch „die größte kollektive Aktion zur Rettung von Juden in Frankreich unter der Okkupation“ („le plus important sauvetage collectif de Juifs en France pendant l’Occupation“) gerettet werden.
Bereits im Dezember 1940 ist die Cimade in den Internierungslagern im Süden Frankreichs präsent (die Lager Gurs, Rivesaltes, Les Milles), und sie eröffnet Aufnahmezentren, insbesondere „Le Côteau fleuri“ bei Le Chambon.
Die antisemitischen Maßnahmen der Vichy-Regierung beschleunigen die Mobilisierung der Protestanten. Nach den Judenrazzien im August 1942 öffnen die Protestanten – Reformierte, Darbysten, Libristen – zusammen mit den wenigen katholischen Gemeinschaften des Plateaus ihre Türen für die „umherirrende Juden“ („Juifs errants“) und „verwandeln einen jeden Bauerhof in eine Zufluchtsstätte, eine jede Küche in einen Ort des Asyls“ („transformant chaque ferme en refuge, chaque cuisine en asile“).
Mehrere hundert Kinder, die dank des Einsatzes der Cimade, von Vereinigungen wie der Young Men’s Christian Association (YMCA, deren Vertreter in Le Chambon Charles Guillon war) oder der Kinderhilfsorganisation „Organisation de Secours aux Enfants“ (OSE) übernommen werden können, werden gerettet, sie können in den verschiedenen Dörfern die öffentliche Schule oder die „École Nouvelle Cévenole“ in Le Chambon besuchen. Dabei leistet das Schweizer Hilfswerk „Secours Suisse“, das zwischen 1941 und 1942 drei Kinderheime, La Guespy, L’Abric und Le Faïdoli, gründet, wertvolle Hilfe.
Jugendliche und Studenten aller Konfessionen und aus allen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern werden in Les Grillons, in Côteau Fleuri, im Studentenheim Les Roches aufgenommen. Zu ihnen stoßen nach und nach die Verweigerer des Zwangsarbeitsdienstes (STO) und die Untergrundkämpfer („combattants de l’ombre“).
Einige der bekanntesten Namen
Es müssten sehr viele Namen genannt werden. Unter den 13 Pfarrern der 12 Gemeinden des Plateaus sind die von Le Chambon zu erwähnen : André Trocmé, Edouard Theis, Noël Poivre.
Zahlreiche Frauen spielten eine wesentliche Rolle : Mireille Philip (die Frau von André Philip, eines Ministers von General de Gaulle in Algier) tarnt Juden, beteiligt sich an der Organisation der Fluchtwege in die Schweiz und schließlich am bewaffneten Widerstand ; Dora Rivière, Madeleine Dreyfus, Simone Mairesse organisieren die Unterbringung sämtlicher Flüchtlinge in Bauernhöfen. Es müssten auch die Namen der verschiedenen Leiterinnen von Pensionen und Hotels, desgleichen die Namen der Lehrer, der Ärzte hinzugefügt werden. Bezeichnend ist, dass in Bauernhöfen und Weilern eine anonyme Menge, eine ganze Bevölkerung, Menschen aufnimmt, beherbergt und rettet.
Falsche Papiere und Passieren der Grenze
Falsche Papiere, ausgestellt von der Cimade, aber auch von Gemeindesekretären oder geschickten Fälschern, schützen diese Flüchtlinge und erleichtern ihnen die Flucht auf Untergrundrouten. Zunächst nach Spanien, wobei der Weg über die Pyrenäen schwierig ist und das Franco-Regime das Entkommen nach Portugal oder Marokko nicht erleichtert. Sodann nach dem Zufluchtsort Genf, entweder über die Berge nach Martigny in Begleitung bergkundiger Mitarbeiter der Cimade oder durch die Ebene über die Pfarrhäuser von Romans, Grenoble, Annecy.
Opfer der Razzien und Überlebende
Konnte Le Chambon, „ein Judennest in einer Hugenottengegend“ („nid de juifs en pays huguenot“), sich den Gesetzen des Krieges entziehen und als geschützte Zone beim Präfekten der Haute-Loire und sogar bei der Wehrmacht oder der Gestapo eine gewisse Immunität genießen ? Nein, denn am 29. Juni 1943 führt die Gestapo im Heim Les Roches eine Razzia durch, und die etwa zwanzig mitgenommenen Jugendlichen werden in die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz verbracht ; der Lehrer Daniel Trocmé, ein Vetter des Pfarrers André Trocmé, stirbt im Konzentrationslager Maïdanek.
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der Flüchtlinge auf dem Plateau anzugeben, wahrscheinlich waren es zwischen 3500 und 5000, und wenn auch weitere protestantische Gegenden, wie die Cevennen, das Gebiet des Tarn (Vabre), der Drôme (Dieulefit, das den Beinamen „Oase des Friedens“ („oasis de paix „) erhalten hat) das Gleiche taten, so macht doch die Höhe dieser Zahl Le Chambon-sur-Lignon zum Symbol der Haltung des französischen Protestantismus gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, und ganz besonders gegenüber den jüdischen Opfern.
Allen Einwohnern von Le Chambon-sur-Lignon zusammen wurde die Auszeichnung „Gerechte unter den Nationen“ verliehen, der einzige Fall einer kollektiven Verleihung.