Calvin und die Bibel

In Calvins Thesen kommt der Bibel fundamentale Bedeutung zu, ohne dass Calvin in den Fundamentalismus verfällt. Sie erkennen der Schrift eine Autorität zu, die eine Auslegung nicht etwa verbietet, sondern geradezu verlangt. Sie fordern eine gelehrte und zugleich gläubige Lektüre der Texte, in der das Intellektuelle nicht vom Geistlichen getrennt wird.

Calvin und das „sola scriptura“

Jean Calvin (1509-1564)

Was versteht Calvin unter der Schrift allein, dem „sola scriptura“? Für Calvin können wir nur durch die Schrift zur wahren Kenntnis Gottes gelangen. Ohne sie sind wir zu Unwissenheit und Irrtum verurteilt. „Niemand, schreibt er, kann auch nur die geringste Ahnung von der heiligen Lehre haben, (sofern er nicht ) durch die heilige Schrift (belehrt ist).“ Diese Behauptung erfordert drei Präzisionen:

  1. Calvin gesteht zu, dass wir in der Untersuchung der Natur und der Ausübung der Vernunft eine gewisse Erkenntnis Gottes haben können. Aber das so erworbene Wissen bleibt unvollständig und ungenügend. Wenn es uns auch lehrt, dass die Welt notwendigerweise durch einen mächtigen und bewundernswerten Schöpfer gemacht ist, kann es uns doch nichts über das Heil lehren. Auch wenn man Gott anderswo wahrnehmen kann, so enthüllt uns einzig die Bibel, dass er der Erlöser ist.
  1. Die Bibel gibt uns die richtige Erkenntnis Gottes ohne vollständig zu sein. Sie lässt uns nicht in sein innerstes Sein eindringen und enthüllt uns nicht dessen „Geheimnis“. Sie handelt nur von dem, was für unser Heil notwendig ist. Es gibt da eine Grenze, die man nicht zu überschreiten versuchen soll. Calvin verurteilt diejenigen, die über das, was in der Schrift gesagt wird, hinausgehen wollen. Solchen wirft er vor, sich von einer frivolen (sie wünschen ein nicht notwendiges Wissen) und blasphemischen (sie wollen in das Mysterium Gottes eindringen) Neugier mitreißen zu lassen.
  1. Die Schrift enthält nichts Unnützes und nichts Überflüssiges. Alles, was sie lehrt, entspricht einer Notwendigkeit. Wenn ihr nichts hinzugefügt werden darf (indem man mehr behauptet als sie sagt), soll man umgekehrt auch nichts von ihr wegnehmen (indem man weniger glaubt als das, was sie sagt). Calvin bekämpft diejenigen, die nur zögerlich die in der Bibel enthaltene Belehrung annehmen (zum Beispiel die von der doppelten Vorherbestimmung) oder diese als gleichgültig (das heißt nicht verbindlich) ansehen.

Eine gemässigte Texttreue

Calvin

Auch wenn Calvin der Bibel große Bedeutung und Autorität zugesteht, behauptet er keineswegs ihre Unfehlbarkeit (Unfehlbarkeit bedeutet Unmöglichkeit von Irrtum in welchem Bereich auch immer). Zwei Gründe veranlassen ihn, ihre Aussagen als nicht unfehlbar zu erachten.

Zunächst unterscheidet er die Lehre von ihrer Formulierung. Die absolute Autorität der Bibel betrifft  die Lehre (oder genauer gesagt, das, was zum Heil führt) und keineswegs die Ausdrücke oder die Details der Erzählungen. Calvin gibt ohne Schwierigkeiten zu, dass dieser oder jener Autor des Neuen Testamentes sich beim Zitieren des Alten täuscht oder dass dieser oder jener Bericht aus den Evangelien nicht genau genug ist. Er erkennt an, dass die Schreiber beim Abschreiben Fehler machen und dass wir einen vielfach veränderten Text in Händen halten. Bei ihm selbst kommt es vor, dass er Bibelverse sehr frei zitiert; er kümmert sich nicht besonders um Buchstabentreue. Wenngleich der Inhalt der Bibel göttlicher Natur ist, ist dessen Formulierung doch nur menschlich und als solche dem Irrtum unterworfen.

Zweitens stellt sich nach Calvin Gott, wenn er zu uns spricht, mit uns auf eine Stufe, er drückt sich in unseren Begriffen und Denkkategorien aus und spricht zu uns in einer uns zugänglichen Rede. Calvin vergleicht ihn mit einer Amme, die sich an ihr Baby in der Babysprache wendet um mit ihm kommunizieren zu können. In der Schöpfungsgeschichte werden zum Beispiel Sonne und Mond als die zwei hauptsächlichen leuchtenden Himmelskörper vorgestellt. Aber wir wissen, so schreibt Calvin, dass es eine Menge noch grösserer Sterne gibt. Als der Heilige Geist diese Schrift seinem Autor eingab, passte er sich dem Kenntnisstand der Menschen dieser Zeit an, auch wenn er falsch und dunkel war. Er hat sich in ihrer Weise ausgedrückt, in ihrer Sprache und in Bezug auf ihr Wissen, damit sie es verstehen können. Dieses Thema der „Anpassung“ eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Lesart der Bibel; man muss sie in ihrem Kontext und damit also relativierend verstehen (das heißt, man muss sie in Relation zu ihrer Umwelt und ihrer Zeit setzen).

Rede und Stimme

Calvins Anliegen ist es, jegliche Idolatrie des Buchstabens zu vermeiden. An sich selbst ist der biblische Text, so sagt er, „eine tote Sache, ohne jede Kraft“. Nur durch das Wirken des Heiligen Geistes in unserm Herzen und Geist wird er lebendiges und wirkendes Wort. Spätere reformierte Theologen werden das verbum Dei (die geschriebene Rede Gottes), das wir in der Bibel finden, von der vox Dei (der lebendigen Stimme Gottes), die der Geist uns hören lässt, unterscheiden.

Ohne Geist ist die Schrift ein verbum, eine Aussage (Problemstellung) oder ein Bericht (Darstellung), die gewiss ein rechtes Wissen von Gott enthält und aus der die richtige Lehre zu ziehen möglich ist. Dennoch macht sie uns den Christ nicht gegenwärtig und nahe, auch wenn sie seine Verkündigung übermittelt. Es genügt nicht, ein Bibelspezialist und guter Ausleger zu sein, um das Wort zu hören, das erlöst und verändert.

Umgekehrt spricht und lehrt der Geist ohne die Schrift nicht. Diesbezüglich gibt es eine Polemik gegen solche (Enthusiasten und Erleuchtete), die glaubten, der Geist lehre sie unmittelbar, und solche (Allegoristen des ausgehenden Mittelalters), die sich an den Geist wandten, um sich von der Schrift zu befreien. Der Geist teilt kein Wissen mit; er macht aus dem in der Schrift enthaltenen Wissen eine bestehende Wahrheit. Der Glaube erspart nicht die gelehrte und strenge Arbeit der Exegese.

Das Wort Gottes ertönt, wenn verbum und vox sich begegnen und berühren. Wenn man sich um die intellektuelle Bildung des Bibellesers bemühen muss, so ist auch seine Inspiration wichtig, die mit derjenigen der heiligen Schriftsteller vergleichbar ist. „Es ist notwendig, sagt Calvin, dass derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, in unsere Herzen tritt.“ Deswegen geht in den reformierten Gottesdiensten der Bibellektüre ein Gebet um Erleuchtung voraus, in dem man den Geist bittet zu wirken, auf dass der zu lesende Text lebendiges Wort werde.

Autor: André Gounelle

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