Der Vordenker
Louis Appia wird 1818 in Hanau geboren. Seine Familie stammt ursprünglich von den Waldensern aus dem italienischen Piemont ab. Er studiert in Heidelberg Medizin und übt seinen Beruf zuerst in Frankfurt, später in Genf aus. Als philanthropischer Arzt setzt er sich für die Verbreitung von Hygieneregeln bei sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten ein, beteiligt sich am Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit und gibt Erste-Hilfe-Kurse.
Während der Revolutionen im Jahr 1848 in Paris und Frankfurt nutzt er seine Erfahrung in Erster Hilfe und versorgt Verwundete. Aus Interesse für die Kriegschirurgie geht er 1859 während des Sardinienkriegs nach Solferino. Er besucht Krankenhäuser in der Lombardei, notiert seine medizinischen Beobachtungen und erfindet ein Gerät für den Verletztentransport. Später schreibt er: „Anlässlich des Krieges in Italien hat sich die Idee des Roten Kreuzes aufgedrängt, wurde in der Praxis erprobt.“
Tatsächlich stellt der Spendenaufruf für die Kriegsverletzten aus dem italienischen Krieg, den er vor seiner Abreise in der Genfer Zeitung veröffentlichte, einen ersten Meilenstein für die Gründung des Roten Kreuzes dar. Bei seiner Rückkehr bringt er „Der Feldchirurg“ heraus, eine Abhandlung über die Verletzungen durch Feuerwaffen. Er berät Henry Dunant in medizinischen Fragen, als dieser 1862 „Eine Erinnerung an Solferino“ verfasst.
In einem von Konflikten zerütteten Europa entstehen die Vision und die Grundprinzipien des Roten Kreuzes, wie sie in dem Werk Henry Dunants beschrieben sind. Durch das Aufeinandertreffen der fünf Genfer werden aus diesen Prinzipien Taten. Henry Dunant, Gustave Moynier, Guillaume-Henri Dufour, Théodore Maunoir und Louis Appia verbindet die gleiche Empörung über das Schicksal der verwundeten Soldaten und die gleiche Entschlossenheit zu handeln. Dieses „Komitee der Fünf“ bildet am 13. Februar 1863 ein internationales Gründungskomitee für das spätere Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und ruft für den Monat Oktober eine erste internationale Konferenz ein. Bei dieser Gründungskonferenz schlägt Louis Appia vor, dass die Helfer eine gleiche weiße Armbinde tragen sollen.
Kaum ein Jahr später, am 22. August 1864, unterzeichnen zwölf Staaten die erste Genfer Konvention zur Linderung des Schicksals verwundeter Soldaten.
Erfahrung in der humanitären Praxis
Unmittelbar nach Gründung des IKRK wurden Louis Appia und Charles Van der Velde als erste Delegierte vom Internationalen Komitee zu einem Kriegsschauplatz entsandt. Bei dieser Mission im Herzogtum Schleswig anlässlich des Deutsch-Dänischen Krieges 1864 wird Louis Appia von Generalfeldmarschall Wrangel, dem Befehlshaber der preußischen Armee, mit den Worten empfangen: „Das Zeichen, das Sie tragen [die Armbinde mit dem roten Kreuz] ist eine ausreichende Empfehlung, wir wissen, was es bedeutet: Sie sind hier für das Allgemeinwohl.“
Diese Erfahrung findet sich im Bericht über den ersten Auftrag der Institution wieder, den Dr. Louis Appia dem IKRK am Vorabend der diplomatischen Konferenz im August 1864 überreicht.
1866 kehrt der Chirurg an die Front zurück, diesmal im Auftrag des Mailänder Roten Kreuzes. Er leitet zusammen mit seinem Bruder Georges, der Pfarrer in Torre Pellice ist, eine Ambulanz. Sie kommen den Verwundeten der Armee von Garibaldi in Bezzecca im Tiarnotal zu Hilfe. Drei Jahre später zieht Louis Appia während des französisch-preußischen Krieges von 1870 erneut ins Feld.
Als Autor medizinischer Veröffentlichungen, die sich oft auf Erfahrungen aus Kriegsschauplätzen stützen, wird Louis Appia zum führenden Theoretiker der Militärmedizin.
Weil er die Leiden der Zivilbevölkerung in den bewaffneten Konflikten hautnah miterlebt, bezieht er sehr bald nach der Gründung des IKRK Stellung für eine Ausweitung der Missionen des Roten Kreuzes auf die Zivilbevölkerung, selbst gegen die Meinung seiner Mitstreiter.
Uneingeschränktes Engagement für die Institution
Nach dem Ausscheiden Henry Dunants wird Louis Appia 1867 Sekretär des IKRK und bleibt es bis 1870.
Als Mitglied des Internationalen Komitees 35 Jahren lang nimmt er an allen Konferenzen des Roten Kreuzes Teil und setzt sich für die Förderung der Aktionen des IKRK und die Verbreitung der Genfer Konvention bei politischen und militärischen Entscheidungsträgern ein.
1872 und 1873 begibt er sich nach Kairo, um den Vizekönig Ismail Pacha zu überzeugen, die Konvention zu unterzeichnen. Louis Appia hat vor, dort ein Krankenhaus für Augenheilkunde zu eröffnen und den Sanitätsdienst der ägyptischen Armee zu beraten, muss aber aus familiären Gründen nach Genf zurückkehren.
Mit Clara Barton, Aktivistin im humanitären Bereich und Gründerin des amerikanischen Roten Kreuzes, unterhält er mehrere Jahre lang einen Briefwechsel. Zusammen mit Gustave Moynier, damals Präsident des IKRK, berät und unterstützt er sie in ihrem Vorhaben.
Christliches Engagement
Als Sohn und Bruder von Pfarrern, treuer Anhänger der Kapelle des Oratoriums von Genf, Mitglied der Evangelischen[1] Gesellschaft und der Bibelgesellschaft stellt Louis Appia seinen tiefen Glauben in den Mittelpunkt der humanitären Mission. In dem kurzen Werk Le Pardon de la dernière heure („Vergebung zur letzten Stunde“) erkennt man eher den Christ als den Arzt wieder, in dessen Rolle er sich selbst darstellt und der einen jungen reuigen Büßer im Todeskampf pflegt.
Unter dem Eindruck von Leid und Verzweiflung in den Militärkrankenhäusern und in Berührung mit sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten kommt Louis Appia in vielen Schriften auf die Motivation für die Hilfsmissionen zurück. So zum Beispiel in La guerre et la charité („Krieg und Wohltätigkeit“), das er mit Gustave Moynier 1867 veröffentlicht.
Das Prinzip der religiösen Neutralität, das sich das Internationale Rote Kreuz seit seinen Anfängen gegeben hat, schränkt sein fast missionarisches Engagement in keiner Weise ein. In dem Werk Le Noël à l’ambulance („Weihnachten in der Ambulanz“), erschienen 1880, erwähnt Louis Appia beispielsweise die Verteilung des Neuen Testaments in russischer Sprache an verletzte Soldaten in Montenegro.
1893, dreißig Jahre nach dem Aufruf zu brüderlichem Handeln des „Komitee der Fünf“ in Genf, legt er folgendes Zeugnis ab: „Der religiöse Einfluss kann im Moment der Tat nicht sehr direkt sein. Wichtig ist, Gottes Nähe zu suchen, um die nötige Ruhe zu bewahren und zu einer wirklichen, praktischen und liebevollen Entsagung fähig zu sein […]. Vergessen Sie nicht, dass sich in diesen Tagen die Ereignisse überstürzen, die materiellen Bedürfnisse wachsen und der Tod schnell kommt: Eine Ermahnung im Vorbeigehen, ein ermutigendes Wort, ein kurzes Gebet, das ist alles.“
Die Besonderheit des Lebenswerkes Louis Appias liegt sicherlich in seiner Nähe zu den verletzlichsten Personen: Als einziger unter den Mitgründern des Roten Kreuzes war er ohne Unterlass im Feld. Er war Chirurg, Notfallmedizinier und Logistiker vor seiner Zeit, außerdem Botschafter einer humanitären Hilfsmission, die schnell ins europäische Gewissen eindringt, bevor sie sich weltweit durchsetzt.
[1] „Evangelisch“ lautet die Bezeichnung, die sich die Christen um Favel und Lefèvre d‘Étaples im 16. Jahrhundert geben, die eine Rückbesinnung auf das Evangelium fordern. Im 19. Jahrhundet übernehmen die Anhänger der Erweckungsbewegung diesen Namen. Heute bezeichnet man damit sowohl die lutherischen und reformierten Kirchen als auch die evangelikalen Kirchen, die aus den Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind.
Louis Appia (1818-1898),
Vorreiter im humanitären Bereich
Comité international de la Croix-Rouge (CICR), Avenue de la Paix, Genève, Suisse