Kindheit in Genf
Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Obwohl er sich dort nur für sehr kurze Zeit aufhielt, hing er lebenslang an der Stadt seiner Geburt und zeichnete sogar ab 1750 seine zahlreichen Schriften mit dem Zusatz Bürger von Genf.
In Genf verbrachte er im Wesentlichen nur seine Kindheit, die durch den vorzeitigen Tod der Mutter (einer Pastorentochter) überschattet war, während der er aber auch glückliche Momente in Gesellschaft seines Vaters erlebte, der ihn zärtlich liebte und zum Lesen selbst von Werken ermunterte, die die Fassungskraft eines Kindes durchaus überstiegen. Als Heranwachsender wurde er von seinem Onkel bei einem Bildstecher in die Lehre gegeben. Das war der Zeitpunkt, an dem er beschloß, « das Weite zu suchen ». Für Jean-Jacques begann damit eine langes und abenteuerliches Wanderleben.
Übertritt zum Katholizismus und Lehrjahre
Sein Weg führt ihn zunächst zu Madame de Warens, die einige Meilen von Genf entfernt in Annecy (Savoyen) lebt. Diese außergewöhnliche Frau ist 12 Jahre älter als Jean-Jacques (der später ihr Liebhaber wird) und bereitet ihn auf seinen Übertritt zum Katholizismus vor. Der junge Mann hat sich zu diesem Schritt entschlossen, da er sich in Frankreich niederlassen will. Madame de Warens legt jedoch auch den Grundstein zu seiner kulturellen (auch musikalischen) Bildung und öffnet ihm die Augen für den Reichtum seiner natürlichen Umgebung. So wird er sich erstmals vieler Fragen bewußt, die ihn später hinsichtlich des „Lebens in Gesellschaft“ beschäftigen werden.
Ein Zerwürfnis mit Madame de Warens läßt ihn nach Lyon (1740) und von dort aus nach Paris (1742) weiterziehen. In der Hauptstadt öffnen ihm seine umfassende Bildung und einige Empfehlungsschreiben sofort die Salons der Denker und Gelehrten aus dem Umkreis der Aufklärer und der Enzyklopädisten. Seine guten Beziehungen und seine persönliche Eignung bringen ihm 1743 die Stellung eines Botschaftssekretärs in Venedig ein, wo er unter anderen den Dichter Carlo Goldoni kennenlernt. In Venedig sieht er sich auch in die verwirrenden Ränkespiele der Politik eingeweiht.
1745 kehrt er nach Paris zurück. Der unermüdliche Wanderer legt hier immer wieder lange Pausen ein und gesellt sich zu den Enzyklopädisten, mit denen er auch zu arbeiten beginnt. Aber er läßt sich nicht dauerhaft in Paris nieder, da seine persönlichen Beziehungen dort immer wieder durch Spannungen, Zerwürfnisse und stürmische Streitereien (mit d’Alembert, mit Diderot, obwohl jener sein geneigtester Freund ist, mit Voltaire und anderen) belastet werden.
Der erste Schritt zum Ruhm : die Abhandlung über die Wissenschaften und Künste
Ab 1749 betätigt sich Rousseau als philosophischer Schriftsteller und bringt es damit unter seinen Zeitgenossen zu Ruhm und Ansehen. Der Anlaß ist bekannt : während eines Besuchs bei Diderot, der wegen der Veröffentlichung seines Essays Brief über die Blinden in der Zitadelle von Vincennes eingesperrt ist, stößt Rousseau im Mercure de France auf die Preisfrage der Akademie von Dijon : “ Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste etwas zur Läuterung der Sitten beigetragen ?“. Diese Frage erschüttert ihn zutiefst („Erleuchtung von Vincennes“).
Von Diderot dazu ermutigt, verfaßt Rousseau seine Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, in der er die These verteidigt, daß es keinen direkten Wirkungszusammenhang zwischen dem künstlerischen und technischen Fortschritt und dem sittlichen Fortschritt gebe, da die Entwicklung der Sitten vorrangig von der rechtlichen Natur gesellschaftlicher Einrichtungen abhängen.
Seine Abhandlung wird 1750 von der Akademie preisgekrönt und Rousseau wird über Nacht berühmt. In Genf wird er als Großer Sohn der Stadt empfangen. Daraufhin kehrt er 1754 zum reformierten Glauben zurück, und zwar auf besonders aufsehenerregende Weise, da die Genfer Pastoren darauf verzichten, ihm das sonst übliche Reuebekenntnis abtrünniger Protestanten abzuverlangen.
Das philosophische Werk
Rousseau macht sich nun daran, die Hauptgedanken seiner Preisschrift einer weiteren Überprüfung zu unterziehen. Ein Problem beschäftigt ihn dabei besonders : die fehlende Übereinstimmung zwischen der Harmonie der Natur und den kleinen und großen Ungerechtigkeiten, die im Schoße der menschlichen Gesellschaft durch die Entartung ihrer gesellschaftlichen Einrichtung entstehen. Handelt es sich hierbei vielleicht um einen zwangsläufigen, schicksalhaften Prozeß ?
Folgerichtig widmet er sich der Geschichte der menschlichen Gesellschaften, wobei er deren bedeutendste Entwicklungsstufen seit der Altsteinzeit hervorhebt. Er geht davon aus, daß dort, wo sich Verhaltensregeln kraft eines Naturgesetzes herausbilden, vernunftsmäßiges Handeln immer möglich gewesen und auch künftig möglich ist. Er schließt des weiteren, daß ein bewußter Wille zur Tat die Entwicklung von Gesellschaften in Richtung auf einen tatsächlichen sozialen Fortschritt und auf eine Harmonie lenken kann, wie sie auch in der Natur besteht.
Aber abgesehen von der begeisterten öffentlichen Aufnahme seines Briefromans Julie oder Die neue Heloise (1764) bleibt den Schriften, die seine Überlegungen zu diesem Thema sowie seine reformerischen Ideen enthalten – Abhandlung über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen (1754), Abhandlung über die Wirtschaft (1755) – der große Erfolg versagt.
1762 veröffentlicht er die Abhandlung Über den Gesellschaftsvertrag und den Bildungsroman Emil oder Über die Erziehung, dem er das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars folgen läßt. Diese Werke tragen ihm harsche Kritik ein.
Der « Emil-Skandal ».
Im Emil behandelt Rousseau die Grundlagen der Erziehung, wobei die Kernfrage lautet : werden diejenigen, die in der Verantwortung stehen, ein Kind bis zum Erwachsenenalter erzieherisch zu begleiten, ihrer Aufgabe gerecht ? Haben sie dazu immer die Mittel und die gebotene Einsicht ?
Rousseau geht hierbei von folgendem Widerspruch aus : das Kleinkind ist von Natur aus gut, während sich der Erwachsene in einer ungerechten und der natürlichen Harmonie zuwiderlaufenden Welt bewegt und dadurch zwangsläufig selber ungerecht geworden ist. Rousseau arbeitet dagegen die großen Prinzipien einer gerechten und ausgeglichenen Erziehung heraus, wobei er sehr anschauliche und manchmal sogar überraschende Beispiele anführt.
In einem ersten Schritt soll dem Kind laut Rousseau die Achtung vor der Natur und die Liebe zu ihrer Harmonie beigebracht werden. Ein weiteres erstrangiges Erziehungsziel gilt dem Umgang mit anderen Menschen, mit dem Anderen, der in seiner Art vertraut und doch zugleich so verschieden von einem selbst ist : das Kind soll in der alltäglichen Auseinandersetzung behutsam lernen, mit dem unvermeidlichen Abstand zum Anderen umzugehen, um nicht Gefahr zu laufen, daß es sich später als Erwachsener in sich zurückzieht und dem Andern mit Mißtrauen und Gewalt begegnet. Auf diese Weise wächst laut Rousseau allmählich der verantwortungsbewußte und gesellschaftsfähige Staatsbürger heran, der seine Fähigkeiten der Allgemeinheit zur Verfügung stellt und dabei stets den Fortschritt der Sitten im Auge behält.
Voltaire konnte es sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß Rousseau sich nicht im geringsten um die Erziehung der fünf aus seiner Verbindung mit Thérèse Levasseur entsprossenen Kinder gekümmert hat. In der Tat hat er sie allesamt in ein Heim gesteckt. Aber hat er seinen Emil nicht auch deshalb geschrieben, um ähnliche Tragödien abzuwenden und die Frage der Kindererziehung in den Rang der Verantwortlichkeiten des Gemeinschaftsleben zu erheben ?
Die Bekenntnisse
Die Lästereien von Voltaire hinterlassen bei Rousseau tiefe Wunden. Er entschließt sich dazu, eine Lebensbeichte abzulegen, die keine seiner Schwierigkeiten und Widersprüche ausläßt. So entstehen die Bekenntnisse : ein beeindruckendes Werk, das in der literarischen Tradition des Frühchristentums und seines Denkers Aurelius Augustinus (354-430) steht. In diesem Werk, dessen Niederschrift Rousseau 1769 beginnt (und das erst nach seinem Tode veröffentlicht wird), zeichnet er seine häufig von persönlichen Leidenschaften gebrochene Lebenslinie nach. Das ihm eigene Bemühen um Wahrhaftigkeit, Echtheit des Gefühls und Folgerichtigkeit des Handels tritt hier in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhaltensregeln, die oft genug eine ungerechte und mit der natürlichen Harmonie nicht zu vereinbarende Ordnung erschaffen.
Die Posaunen des Jüngsten Gerichts mögen erschallen wann sie wollen : ich werde mich einstellen, mit diesem Buch in der Hand, und vor den Obersten Richter treten und laut verkünden : „Hier ist, was ich gemacht, gedacht und gesagt habe. […] Ich habe mein Innerstes aufgedeckt, und Du wirst es wiedererkennen. Ewiges Wesen, schare um mich die zahllose Menge Meinesgleichen, auf daß sie meine Bekenntnisse hören, meine Unwürdigkeit beseufzen und angesichts meiner Not erröten ; auf daß sich ein Jeglicher unter ihnen am Fuße Deines Throns seines eigenen Herzens mit derselben Aufrichtigkeit gewahr wird ; und auf daß, so er es wagen möchte, ein Einziger Dir sagt : ich war besser als dieser Mensch dort.“ (Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra, je viendrai, ce livre à la main, me présenter devant le souverain juge. Je dirai hautement : « Voilà ce que j’ai fait, ce que j’ai pensé, ce que j’ai dit… J’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toi-même. Être éternel, rassemble autour de moi l’innombrable foule de mes semblables ; qu’ils écoutent mes confessions, qu’ils gémissent de mes indignités, qu’ils rougissent de mes misères. Que chacun d’eux découvre à son tour son cœur aux pieds de ton trône avec la même sincérité ; et puis qu’un seul te dise, s’il l’ose, je fus meilleur que cet homme-là.)
Am Ende seines Lebens flieht er Seinesgleichen und wird zum unsteten Wanderer. Trotz der Bemühungen einiger treuer Freunde versinkt er in Einsamkeit. In den letzten Monaten seines Lebens schreibt er die Träumereien eines einsamen Spaziergängers nieder.
Rousseau ist am 2. Juli 1778 in Ermenonville gestorben, dem Landsitz des Marquis de Girardin, der ihm angeboten hatte, sich dorthin mit Thérèse Levasseur (seiner langjährigen Lebensgefährtin und seit 1768 seiner Ehefrau) zurückzuziehen. 1794 wurden seine sterblichen Überreste in das Panthéon in Paris überführt.
Die Einstellung Rousseaus zur Religion
Trotz seines ständigen Liebäugelns mit dem Katholizismus hat Rousseau die protestantische Erziehung, die er als Kind erhalten hatte, nie vergessen.
Dem Zeitgeist der Aufklärung folgend hat sich Rousseau wie viele seiner Mitstreiter gegenüber den religiösen Einrichtungen sehr kritisch gezeigt und ihnen ihre weltliche Machtausübung vorgeworfen. Vor allem hat er sich gegen den durch « Offenbarungswahrheiten » begründeten Autoritätsanspruch der Kirche gewandt. Im Namen dieser « Wahrheiten », deren ausschließlichen Besitz die Kirche für sich in Anspruch nimmt, seien laut Rousseau (so im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars) viel zu viele « Gegenwahrheiten » in die Welt gesetzt worden.