Die Radikalreformation
im 16. Jahrhundert

Der Ausdruck „Radikalreformation“ bezeichnet eine vielschichtige und uneinheitliche Bewegung. Ihren Wortführern gehen die Lutheraner und die Reformierten nicht weit genug : die Reformation ist für sie auf halbem Wege stehengeblieben.

Die Ursprünge der Bewegung

  • Thomas Müntzer (1489-1525) © Collection privée

Die Radikalreformation entsteht an zwei verschiedenen Orten : in Deutschland im Gefolge Luthers und in der Schweiz im Gefolge Zwinglis, aber in bewußter Abkehr von diesen beiden Reformatoren.

In Deutschland wirft der Pastor Thomas Müntzer (um 1489-1525), ein ehemaliger Priester, Luther vor, dieser sei zu zaghaft und gehe den von ihm einmal eingeschlagenen Weg nicht bis zu seinem Ende. Luther reformiert nur die Kirche ; Müntzer fordert dagegen auch eine Reform der Gesellschaftsordnung, die zu mehr Gerechtigkeit führen soll : Abschaffung der Vorrechte des Adels, Übertragung von Rechten an das Volk, Umverteilung des Reichtums, der allen zugute kommen soll.

Während Luther gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Obrigkeit Gehorsam predigt, ruft Müntzer zur Revolte auf. Eine große Zahl der unter Elend und Ausbeutung leidenden Bauern folgt ihm und erhebt sich. Das Bauernheer wird in der Schlacht von Frankenhausen (1525) vernichtend geschlagen. Müntzer wird gefangengenommen, gefoltert und schließlich hingerichtet. Luther hat vorher den Landadel dazu aufgerufen, gegen die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ erbarmungslos und mit aller Härte vorzugehen.

Zwischen 1521 und 1524 kommt es auch in der Schweiz zu einem Zerwürfnis : einige Züricher wenden sich gegen Zwingli, der ihnen zu zaghaft vorgeht. Sie werfen ihm vor, die Reformation zu langsam und nur in kleinen Schritten voranzutreiben, anstatt ein für alle mal durchzugreifen. Als Zwingli zu der Einsicht kam, daß die Messe keine biblische Grundlage besitzt, hat er zum Beispiel drei Jahre lang gezaudert, bevor er sie durch den protestantischen Gottesdienst ersetzte. Dieses behutsame Vorgehen erklärt sich jedoch aus den seelsorgerischen und erzieherischen Grundsätzen Zwinglis : er will erklären und überzeugen und die Dinge nicht ändern, bevor er nicht sieht, daß die Menschen auch wirklich dazu bereit sind. Einige seiner Mitarbeiter aus dem Freundeskreis um Grebel wollen jedoch sofort Klarheit schaffen. Sie wollen, daß jeder im Bewußtsein seiner Möglichkeiten seine eigene Entscheidung trifft.

Die Täufer

  • Briefmarke: Darstellung Müntzers und des Bauernkrieges © Collection privée

Müntzer und Grebel lehnen beide die Taufe der Neugeborenen ab. Ihrer Meinung nach sollen nur die zum Glauben gelangten Erwachsenen nach ihrer persönlichen Gewissensprüfung getauft werden. Grebel hält die Kindstaufe für nichtig. Die Täufer werden auch Wiedertäufer genannt, da sie eine zweite Taufe bei denjenigen vornehmen, die bereits im Kindesalter getauft wurden. Diese Auffassung der Taufe führt zum Bruch zwischen Zwingli und Grebel.

Während Müntzer zum bewaffneten Aufstand aufruft, predigt Grebel Friedfertigkeit : für ihn darf sich ein Christ niemals der Gewalt bedienen, selbst nicht im Dienste einer gerechten Sache.

Die Radikalreformer werden überall auf das Härteste verfolgt. In Deutschland werden sie niedergemetzelt ; in Zürich werden sie mit einem Anflug von Schwarzem Humor im See ertränkt : „sie haben sich am Wasser (Taufwasser) versündigt, so sollen sie auch vom Wasser abgestraft werden“. 1523 halten die Abweichler in Schleitheim in der Schweiz eine Synode ab, die unter dem Namen „Märtyrersynode“ in die Geschichte eingeht, da mit wenigen Ausnahmen alle Beteiligten früher oder später wegen ihrer religiösen Auffassungen hingerichtet werden.

Die unterschiedlichen Strömungen

Nach der Niederlage Müntzers und der Zerschlagung des Grebelschen Freundeskreises wird die Radikalreformation nur noch von einigen kleinen Gruppen, über deren genaue Geschichte wenig bekannt ist, insgeheim vorangetrieben. In Münster (Westfalen) kommt es in den Jahren 1534 und 1535 noch einmal zu einem Aufflackern der Bewegung, das in einem Blutbad endet. Seitdem predigen die geistigen Erben dieser Bewegung die Gewaltlosigkeit.

Innerhalb der radikalreformerischen Bewegung zeichnen sich drei Gruppen ab, deren religiöse Ansichten sich allerdings oft gleichen :

  • Die Antipedobaptisten, das heißt Protestanten, die die Taufe im Kindesalter ablehnen. Lutheraner und Reformierte wollen eine Volkskirche, die im politischen Gemeinwesen eingebettet ist. Die Radikalen wollen eine Kirche der „Reinen“ : die Gläubigen sollen sich von der Masse absondern und bewußt aus der weltlichen Gesellschaft „austreten“ ; sie lehnen die Kindstaufe ab, da diese an geistig Unmündigen vollzogen wird. Nach 1535 wurde diese Bewegung von dem Holländer Menno Simon angeführt (von seinem Namen ist die Bezeichnung Mennoniten abgeleitet). Die Antipedobaptisten unserer Tage sind bei den Baptisten anzutreffen.
  • Die Illuministen oder Spiritualisten, die davon ausgehen, daß der Heilige Geist unmittelbar zu den Gläubigen spricht, sie im wahren Glauben erhält und ihnen auf dem Wege der inneren Erleuchtung ihr Verhalten vorschreibt. Innerhalb dieser Bewegung sind Menschen anzutreffen, die sich für Propheten halten. Die Illuministen gelten als die Vorläufer der gegenwärtigen Pfingstler und Charismatiker.
  • Die Unitarier oder Anti-Trinitarier, die den Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit Gottes („Trinität“) ablehnen, da er für sie nicht biblischen Ursprungs ist. Sie wollen die Offenbarung mit der Vernunft versöhnen, da die eine wie die andere dem Menschen von Gott gegeben ist. Diese Richtung wurde wesentlich von dem Italiener Lelio Sozzini (1525-1562) und seinem in Polen lebenden Neffen Fausto Sozzini (1539-1604) geprägt. Der gegenwärtige liberale Protestantismus und der Unitarismus stehen in ihrer geistigen Nachfolge.

Die Radikalreformer wollen die bestehende Kirche restlos beseitigen. Sie wollen einzig und allein dem Vorbild der Apostel folgen und eine ausschließlich auf das Neue Testament gegründete christliche Kirche einrichten, die mit ihrer jahrtausendealten Tradition bricht. Lutheraner und Reformierte glauben, daß alles erlaubt ist, was die Bibel nicht verbietet. Für die Radikalen ist alles verboten, was die Bibel nicht ausdrücklich befiehlt.

Die Radikalreformation hat es niemals zu einem zusammenhängenden Verbreitungsgebiet mit einem geographischen Zentrum gebracht : in Polen ist sie gescheitert, in Siebenbürgen (im heutigen Rumänien) hat sie einige starke Stützpunkte erobert, ist aber auch dort niemals zu einer flächendeckenden Kraft geworden. Sie wurde von kleinen, von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Gruppen weitergetragen, die aber oft einen gewissen Einfluß ausübten. Ihre frühen Wortführer hatten (im Unterschied zu den Häuptern der „Reformation der Magister“) selten eine akademische Fachausbildung, sondern waren meistens grüblerische, durch ganz Europa irrende Außenseiter (wie zum Beispiel Servet, Marpeck, Schlatter, Joris ; die bekanntesten unter ihnen sind Menno Simon sowie Leilo und Fausto Sozzini). Diese Reformbewegung fand vor allem in Handwerkskreisen (heute würde man sagen : unter Vertretern technischer Berufe) Verbreitung. Sie ist von den Lutheranern und den Reformierten sowie auch von der katholischen Kirche grausam verfolgt worden.

Autor: André Gounelle

Bibliographie

  • Bücher
    • BAECHER Claude, Michael Sattler, la naissance d’Église de professants, Excelsis, 2002
    • Collectif, Miroir des martyrs (anabaptistes), Excelsis, 2003

Dazugehörige Vermerke

  • Ulrich Zwingli (1484-1531)

    Zwingli ist Seelsorger und Theologe. Für ihn ist das Studium der Bibel die Grundlage einer Reformation, die den Kampf gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mit einschließt.
  • Unterschiedliche Wege der Reformation

    « Die Reformation hatte überall ihre eigenen Wurzeln. In Frankreich, in der Schweiz und anderswo wuchs sie auf heimischem Boden und unter unterschiedlichen Gegebenheiten heran, brachte aber dennoch überall die selbe...
  • Die reformierte Bewegung im 16. Jahrhundert

    Die reformierte Bewegung entsteht aus den Bemühungen mehrerer Reformatoren. Sie geht von Zürich und Genf aus und verbreitet sich über weite Teile Europas.
  • Die katholische Reform oder Gegenreformation im 16. Jahrhundert

    Das Konzil von Trient (1545-1563) bezeichnet durch seine Reformen der Glaubenslehre und des Kirchenlebens einen Wendepunkt in der Geschichte des Katholizismus