Der Denkansatz von Whitehead
Alfred Whitehead (1861-1947) war einer der Begründer der mathematischen Logik und arbeitete als Mathematiker mit Bertrand Russel (1872-1970) zusammen. Er wurde 1923 als Philosophieprofessor an die amerikanische Harvard-Universität berufen und veröffentlichte 1929 ein Werk, das nicht leicht zu erschließen ist, aber allgemein als ein herausragender Beitrag zur Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt : Process and Reality [Prozess und Wirklichkeit].
Nach Whitehead ist die Wirklichkeit gleichermaßen „Prozess“ (Ablauf, Werden, Entwicklung) wie „Beziehung“ (Gegenseitigkeit, Verhältnis, Relation). Alles unterliegt dem Wandel, alles ist im Fluss, in ständiger Umformung. Dadurch erst gelingt es dem Neuen, sich durchzusetzen. Die Bestandteile der Wirklichkeit bestehen nicht unabhängig voneinander, sondern beziehen sich aufeinander. Diese Einsicht führte Whitehead zu der Überzeugung, dass die Welt ohne Gott nicht schlüssig zu erklären ist. Für ihn „pumpt“ Gott unablässig neue Möglichkeiten in die Welt, die ohne Ihn dazu verurteilt wäre, sich im Ewiggleichen zu wiederholen und an Energieverlust zugrunde zu gehen. In dieser „dynamistischen Metaphysik“ steht das Leben im Mittelpunkt : wenn etwas geschieht, dann ist es Gott, der gemacht hat, dass es geschieht.
Herausbildung der Prozess-Theologie
Von 1928 bis 1955 unterrichtete in Chicago der Philosophieprofessor Charles Hartshorne (1898-2000), der Whiteheads Denkansatz aufnahm und verbreitete. Unter seinem geistigen Einfluss gingen einige seiner Studenten (vor allem John Cobb, geboren 1925) daran, eine „Theologie des Prozesses“ auszuarbeiten, wobei sie auch die Fortschritte in der Physik und in den allgemeinen Naturwissenschaften berücksichtigten. Auf diese Weise gelangten sie zu einem Verständnis des „Wirklichen“, in dem Gott und die Welt als untrennbar gedacht werden müssen, als zwei aufeinander bezogene Triebkräfte eines immerwährenden Schöpfungsprozesses.
Diese Theologie wurde vor allem in der englischsprachigen Welt, in Japan, in Korea und auch in Deutschland aufgenommen, während die von der romanischen Kultur geprägten Länder von ihr eher unberührt blieben.
Das Wesen Gottes in der Prozess-Theologie
Gott ist bipolar, zweipolig. Er ist gleichermaßen aktiv wie passiv. Er wirkt in der Welt, in der es ohne Ihn kein Leben gäbe : das ist sein ursprüngliches Wesen. Er ist aber auch gewissermaßen von der Welt hervorgebracht, da diese aus Ihm macht was er ist : das ist sein abgeleitetes Wesen.
Sein ursprüngliches Wesen ist das „Prinzip“, das allen Dingen und Wesen erlaubt zu sein. Es ist gleichermaßen Ursprung wie Begrenzung alles Möglichen. Ursprung, da es unaufhörlich neue Möglichkeiten eröffnet und der Welt dadurch ihren Schwung verleiht. Begrenzung, da alle diese Möglichkeiten sich nicht gleichzeitig anbieten. Wäre es anders, würde sich von ihnen keine einzige verwirklichen lassen, da eine unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten die Welt lähmen würde.
Das abgeleitete Wesen ist die Auswirkung auf Gott von allem, was in der Welt geschieht. Oft reagiert die Welt auf die von Gott ausgehenden Impulse ablehnend und lässt diese manchmal sogar scheitern und Ihn dadurch leiden (das beste Beispiel hierfür ist der Kreuzestod Christi). Gott ist nicht allmächtig. Jedes Wesen besitzt die Freiheit, Ihm zu folgen oder auch nicht, aber niemals gibt Gott die Partie verloren : er bringt stets neue Möglichkeiten in die Welt (so zum Beispiel die Auferstehung Christi).
Gott ist Anziehungskraft. Er ruft jedes Wesen dazu auf, sich unter allem Möglichen für das Bestmögliche zu entscheiden und damit einem glücklicheren und harmonischeren Universum den Weg zu bereiten.
Die Schöpfungskraft Christus
Die Zukunft ist offen und nicht vorherbestimmt, da sie zum Teil davon abhängt, was die Menschen aus der Welt machen. Selbst Gott kann nicht in die Zukunft blicken. Der Gläubige fühlt sich verantwortlich und sieht sich gedrängt, an der Verbesserung der Welt mitzuarbeiten. Aber er lebt auch in dem Vertrauen in Gott, da er weiß, dass dieser stets die Möglichkeit einer guten Zukunft offenhält.
Diese göttliche Kraft des Wandels nennt John Cobb „Christus“. Nun gibt es allerdings „christische“, das heißt dem Wandel verschriebene Figuren und Ereignisse, die nichts mit Jesus von Nazareth zu tun haben, so wie diese auch in anderen Religionen oder auf nicht-religiösem Gebiet in Erscheinung treten. Für die Christen aber sind Jesus und Christus wesensgleich und nicht bloß „christisch“, da Gott durch Ihn entscheidend in die Welt der Menschen eingreift, diese umformt, ihre Lage verändert und sie auf eine Zukunft ausrichtet, die im Neuen Testament das „Reich Gottes“ genannt wird („… Dein Reich komme, wie im Himmel all so auch auf Erden …“). Die Verheißung des künftigen Reiches Gottes ist entscheidend. Sie ist der Kern der „Frohen Botschaft“, des biblischen Evangeliums.
Das gläubige Vertrauen in die Zukunft
Glaube setzt die Anerkenntnis eines religiösen Lehrsatzes weder voraus, noch besteht er hauptsächlich in Bezug auf eine Doktrin. Glaube bedeutet, stetig voranzuschreiten, sich dem Abenteuer eines Lebens in einer Welt hinzugeben, die durch Gottes Allgegenwart „gearbeitet“ ist, in der aber nichts von vornherein feststeht. Glaube bedeutet, Gott im Bild des Nächsten, in der Sicht neuer Denkmodelle, in unterschiedlichen Sprachen gemäß der biblischen, unserer Welt angepassten Botschaft zu denken, auszudrücken und ohne Unterlass zu leben. Es geht darum, die Glaubhaftigkeit Gottes zu bewahren oder für unsere Zeitgenossen wiederherzustellen, und es Jedem zu ermöglichen, sich Seiner schöpferischen Gegenwart zu öffnen und an der Verwirklichung des Schöpfungsgedankens mitzuarbeiten. Denn Gott ist Aktion und Bewegung. Der Glaube ist seine Dynamik.