Der Einfluss der Protestanten in den Anfängen der Dritten Republik ist unbestreitbar.
Die Protestanten entscheiden sich mehrheitlich für die Republik, zumal die katholische Kirche sich für die Wiederherstellung der Monarchie ausspricht und die politische Demokratie ablehnt (Syllabus). Die neuen Formen der Frömmigkeit (spektakuläre Verehrung von Statuen, Reliquien, Brunnen) schockieren sowohl Protestanten als auch Republikaner, denen sie als der Triumph des Obskurantismus erscheinen. Das Bürgertum, im Zweiten Kaiserreich orleanistisch geblieben, stellt sich auf die Seite der Republik. In den ländlichen Gebieten gelten die protestantischen Gemeinden mit ihren Pastoren an der Spitze als „ländliche Republikaner“.
Mehrere Intellektuelle, z. B. Taine und Jules Favre, fühlen sich zum Protestantismus hingezogen, ohne jedoch zu ihm überzutreten. G. Sand lässt ihren Enkeln protestantischen Religionsunterricht erteilen. E. Quinet vertrat bereits in La Révolution (1865), das er im Exil in der französischen Schweiz schrieb, den Gedanken, der Katholizismus sei von Natur aus antidemokratisch, und verknüpfte die Zukunft der Demokratie mit der Unterstützung durch die Protestanten.
Manche gehen noch weiter und denken an eine „Protestantisierung“ Frankreichs. E. Réveillaud veröffentlicht 1878 La question religieuse et la solution protestante. Charles Renouvier popularisiert in seiner Zeitschrift Critique philosophique die These, die Protestantisierung Frankreichs sei für die Etablierung der Republik unverzichtbar, wodurch er den Spott der Positivisten, wie Littré, auf sich zieht, denen zufolge Frankreich nicht religiös genug ist, um sich zu bekehren, und zu sehr vom Jahrhundert der Aufklärung geprägt ist, um zu den Zeiten Calvins zurückzukehren.
Auf eine der großen Leistungen der Dritten Republik, nämlich das unentgeltliche und obligatorische bekenntnisneutrale Schul- und Unterrichtssystem (s. Les protestants et la création de l’enseignement républicain), übten die Protestanten maßgeblichen Einfluss aus.
Die Rolle der Protestanten im politischen Leben und in den hohen Verwaltungspositionen ist augenfällig und oft Zielscheibe der klerikalen Rechten (s. Antiprotestantismus).
Nach dem Rücktritt von Mac-Mahon kommt es im Februar 1879 zur Bildung eines Kabinetts unter dem Vorsitz des Protestanten W. Waddington, in dem 5 der 10 Minister Protestanten sind : Élie Le Royer (Justiz), Léon Say (Finanzen), Louis-Charles de Freycinet (Öffentliche Arbeiten), der Admiral Jean-Bernard Jauréguiberry (Marine und Kolonien). 14 der 116 unabsetzbaren Senatoren, die zu Beginn der Dritten Republik gewählt wurden, gehören den Kirchen der Reformation an, und dieser Anteil von 12 % liegt weit über dem protestantischen Bevölkerungsanteil in den Jahren 1871 – 1914. Der Anteil der protestantischen Minister liegt zwischen 6 % und 8 % und beträgt somit das Sechsfache des protestantischen Bevölkerungsanteils im Land.
Die Dekrete vom März 1880, mit denen die religiösen Kongregationen verboten werden, veranlassen zahlreiche Katholiken zum Rücktritt von hohen Verwaltungsposten, vom Staatsrat und vor allem von hohen Staatsämtern. Die Regierenden müssen daraufhin umgehend Personen ernennen, deren republikanische Gesinnung außer Frage steht, was die Ernennung von Protestanten und auch Juden zur Folge hat.
Die Regierung zollt dem Protestantismus öffentlich Anerkennung, wie die Rede zeigt, die von Jules Ferry im November 1879 zur Einweihung der Faculté protestante de théologie de Paris gehalten wurde :
„In der neueren Geschichte war der Protestantismus die erste Form der Freiheit. Unsere politische Botschaft ist auch die Eure. Die Revolution von 1789, deren logische Weiterentwicklung unsere Republik ist, wurde zum Teil von Euch herbeigeführt : sie ist für Euch der Tag der endgültigen Befreiung. Wir grüßen Euch folglich als eine befreundete Macht, als eine notwendige Verbündete, die weder die Republik noch die Freiheit im Stich lassen wird. Sie können sich auf uns verlassen, wie wir uns auf Sie verlassen können und Sie können sicher sein, meine sehr geehrten Herren, dass Sie bei uns stets nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch tiefe Sympathie finden werden“.
(in Une histoire des protestants en France, Marianne Carbonnier-Burkard, Patrick Cabanel, op. cit.)
Die Rolle der Protestanten in den Anfängen der Dritten Republik wird von P. Cabanel wie folgt zusammengefasst :
„der tatsächliche Platz des Protestantismus in der jungen Republik zeichnet sich klarer ab. Es handelt sich nicht so sehr um die physische Eroberung von Posten, als um die Gewinnung eines ideologischen, kulturellen und, um das Wort zu wagen, geistigen Einflusses. Die Protestanten, solche aus alten Hugenottenfamilien oder neu Übergetretene, und ihre Sympathisanten haben nicht die Macht ergriffen…. Sie haben jedoch eine fundamentale Funktion erfüllt, die zur gleichen Zeit in anderen Ländern Europas von den Juden erfüllt wurde und die für viele absolute religiöse Minderheiten bezeichnend ist. Als „Volk“ des Buches und der Diaspora (das „Refuge“ der Hugenotten), das lange Zeit vom Staat ausgeschlossen und mehr als üblich auf den Umgang mit Zeichen, monetärer wie kultureller Art, zurückgeworfen war, wurden die französischen Protestanten zu Übersetzern, Importeuren, Übermittlern von Gedanken und Einflüssen in einem entscheidenden Moment der Modernisierung ihres Landes, zu dem Zeitpunkt, als die Republik und die Schule für alle feste Wurzeln fassten, nach den tragischen Lektionen des 2. Dezember und der Niederlage von Sedan. Die Moderne kam damals aus dem angelsächsischen, protestantischen Norden Europas, und auch bereits ein wenig aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Als Folge des überproportionalen Anteils der Elsässer in ihrer Mitte, der Deutschsprachigkeit ihrer Pastoren, durch die Schweizer Herkunft und die familiären Verbindungen, die viele mit der Schweiz unterhielten, durch eine gewisse Anzahl von Heiraten, und schließlich durch ihren gesamten theologischen und kulturellen Hintergrund, mit dem sie Kant näher standen als Chateaubriand, stehen die französischen Protestanten mit einem Fuß auf dem anderen Ufer des Rheins oder des Ärmelkanals. Sie können anderenorts bewährte und bewunderte Neuerungen in ihr Land einführen, ohne das unüberwindliche Hindernis, das das Gefühl der radikalen Fremdheit damals für einen französischen Katholiken darstellen konnte…“
(Patrick Cabanel, Les Protestants et la République, op.cit., p.59-60).
Zum Ende des Jahrhunderts wird der protestantische Einfluss schwächer. Viele Protestanten sind beunruhigt oder gar schockiert über den ausgeprägt antireligiösen Charakter, den die Dritte Republik angenommen hat und es kommt sogar zur Formierung einer „protestantischen Rechten“. Gleichzeitig entwickelt sich die katholische Kirche unter Leo XIII. weiter und erlaubt das Bekenntnis zur Republik ; die katholischen, jedoch nicht klerikalen Eliten treten rasch auf den Plan und erobern den von den Protestanten besetzten Raum zurück.