Die Befreiungstheologien

Die Befreiungstheologien entstanden gegen Ende der 1960er Jahre in katholischen Kreisen Lateinamerikas und haben dort eine starke Wirkung entfaltet. Sie prangerten die Unterdrückung der Armen an und riefen zum Kampf gegen die Entfremdung auf. Ihr Ausgangspunkt war die alltägliche Lebenswirklichkeit ; erst danach kam es zur Ausarbeitung von Theologien.

Der geschichtliche Zusammenhang

Georges Casalis (1917-1987) © S.H.P.F.

Die Befreiungstheologien entstanden gegen Ende der 1960er Jahre im Schoße der katholischen Kirche in jenen Ländern Lateinamerikas, die von Militärdiktaturen erstickt und von gesellschaftlichen Krisen geschüttelt wurden. Ihre beiden bekanntesten Vordenker waren der brasilianische Franziskaner Leonardo Boff und der Peruaner Gustavo Guttierez, der der Bewegung mit seinem 1971 erschienenen Buch Die Theologie der Befreiung den Namen gab.

Die Bevölkerung Lateinamerikas war vom Ende des 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein fast vollständig katholisch, aber ihre Kirchenführung war zutiefst autoritär. Gegen Ende der 1960er Jahre kam es zu Protestbewegungen gegen die katholische Kirche, die für ihre Kritiker in allzu enger Eintracht mit der Politik lebte. Zur selben Zeit kamen Militärdiktaturen und totalitäre Regierungen an die Macht, unter denen jegliche politische Opposition ausgeschaltet wurde.

In dieser Zeit weltweiten Wirtschaftswachstums blickte die arme und entrechtete Bevölkerung Lateinamerikas neidvoll auf das nordamerikanische Gesellschaftsmodell.

Die Befreiungstheologien

Die Befreiungstheologien berufen sich auf die Gegebenheiten ihrer Zeit und tragen der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lage Rechnung. Die Armen müssen aus ihrer bedrückenden Situation befreit werden, aber sie müssen sich ihre Freiheit selbst erkämpfen. Die Befreiungstheologien prangern den Kapitalismus als Quelle der Entfremdung an. Sie übernehmen marxistische Erklärungsmodelle, unterscheiden aber strikt zwischen politischem Engagement und christlichem Denken.

Die individualistischen Lebensentwürfe westlicher Gesellschaften werden verworfen, da sie auf die in Lateinamerika bestehende entfremdete Gesellschaftsordnung nicht anzuwenden sind und die konkreten Probleme, unter denen die Massen leiden, nicht lösen können. Die Kirche wird als eine gesellschaftliche Einrichtung begriffen, die das Zusammenleben der Menschen wirksam beeinflussen kann. Sie muss die Gesellschaft zu Gerechtigkeit und Frieden führen.

Diese in katholischen Kreisen entwickelten Ideen wurden auch von den protestantischen ökumenischen Bewegungen aufgenommen, die fortschrittlichen und selbst revolutionären Gruppen nahestanden. Auf protestantischer Seite vertrat sie der in Nicaragua wirkende Pastor Georges Casalis.

In Medellin (Kolumbien) erklärte 1968 die lateinamerikanische Bischofskonferenz, die Kirche dürfe soziale Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen ; sie müsse vielmehr „ihr Hauptaugenmerk auf die Armen richten“.

Die Vorgehensweise

Es muss von den Gegebenheiten vor Ort ausgegangen werden, um anschließend einen theologischen Überbau erarbeiten zu können, der die sozialwissenschaftliche Analyse der Wirklichkeit berücksichtigt.

Das persönliche Engagement steht im Vordergrund und geht dem theologischen Nachdenken voraus. Zunächst muss die wirkliche Lage, die man ändern will, voll und ganz verstanden sein. Theologie ist immer kritisches Nachdenken, das einem historischen Engagement folgt.

Für Georges Casalis ging es darum, nicht von ewigen Wahrheiten auszugehen, um in der Wirklichkeit anzulangen. Vielmehr müssen die Risiken und tagtäglichen Überlebenskämpfe der Unterdrückten auf ihre Wurzeln zurückgeführt und mit der Lehre Jesu Christi verbunden werden.

Der Inhalt

Es geht darum, „den Armen ein Vorrecht einzuräumen“. Die Bibel lehrt, dass die Armen die „Kinder Gottes“ sind und zeigt Wege zu ihrer Befreiung auf. Da Gott an der Seite der Armen steht, müssen sich auch die Kirchen an deren Seite stellen.

Das Reich Gottes verwirklicht sich in der Welt durch eine Kirche der Armen, und nicht durch eine Kirche für die Armen.

Ein Jeder muss also die Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen berücksichtigen und versuchen, den christlichen Glauben als eine befreiende Botschaft darzustellen, als eine Kraft des Wandels, die den Hoffnungen und der Dynamik der Armen Raum gibt.

Kritik gegenüber den Befreiungstheologien

Die Befreiungstheologien wurden offen kritisiert.

  • Die römisch-katholische Kurie setzte ihre Schriften auf die Verbotsliste und warf ihren Autoren vor, den christlichen Glauben mit marxistischem Denken zu verwechseln. Allerdings kam es erst sehr spät zu Verurteilungen und Kirchenausschlüssen. Der Heilige Stuhl zog es anfangs vor, die engagierten Priester ihres Amtes zu entheben oder, wie im Falle von Hochwürden Camara, Bischöfe zu versetzen und an ihrer Stelle andere zu ernennen.
  • Die US-amerikanische Regierung hatte ein Interesse daran, die Bewegungen vor Ort zu schwächen, da sie ihr Zusammengehen mit revolutionären Kräften befürchtete. Die USA unterstützten die protestantisch-evangelischen und die fundamentalistischen Kirchen. In den lateinamerikanischen Ländern hat sich seit einem Jahrhundert ein evangelischer Protestantismus herausgebildet, der den Befreiungstheologien ziemlich ablehnend gegenüber steht und starken Zulauf hat.
  • Europäische Theologen brachten folgende Einwände vor : wieso sollte man davon ausgehen, dass die Armen das Evangelium besser als andere verstünden ? Die „intuitive Methode“ der Befreiungstheologien führt für ihre Kritiker zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Die Befreiungstheologien fanden auch in Afrika und in Asien Gehör, verschrieben sich dort jedoch anderen Zielen :

  • dem Kampf gegen rassische und ethnische Unterdrückung der Farbigen durch die Weißen.
  • dem Kampf gegen kulturelle Unterdrückung der Farbigen, denen lange Zeit jegliche kulturelle Identität abgesprochen worden war.

Es gab also verschiedene Befreiungstheologien : eine Theologie rassischer Befreiung, eine Theologie kultureller Befreiung, aber auch eine in der westlichen Welt erarbeitete Theologie der Frauenbefreiung, deren Ziele einer Verteidigung und Stärkung der Rechte der Frauen in den Ländern der Dritten Welt ebenfalls aufgenommen wurde.

In Europa fanden die Befreiungstheologien allerdings kaum Widerhall.

Das Erlahmen der Befreiungstheologien gegen Ende der 1980er Jahre

Auf dem 1986 abgehaltenen und von Kardinal Alfonso Lopez Trujillo geleiteten Kongress wurde der Befreiungstheologie vorgeworfen, eine Schwächung der Kirche zu betreiben, da sie marxistische Denkweisen übernehmen und damit die Trennung von Religion und Politik verwischen würde. Der Kardinal schlug demgegenüber vor, sich zu einer Theologie der Versöhnung zu bekennen.

Auf diesem Stand der Dinge kam es zur Wende des Jahres 1989, die das Ende des Kommunismus einleitete.

Von dieser Zeit an :

  • verloren die oppositionellen Volksbewegungen an Schwung, da die bisherigen totalitären Regime nach und nach durch demokratisch gewählte Regierungen abgelöst wurden ;
  • wurde die Idee fallengelassen, gesellschaftliche Gleichheit durch eine Volkskirche herbeizuführen ;
  • gewannen ökologische Zielsetzungen an Bedeutung ;
  • ließ die ökumenische Begeisterung nach ;
  • wandten sich Pfingstler und Evangelikale gegen die Befreiungstheologien ; vor allem die Pfingstler verzeichneten seit dem Ende des Jahres 1989 einen starken Zulauf seitens der armen Bevölkerungen ;
  • tauchten regional verwurzelte Theologien auf, die sich an der Lage der Farbigen, der Mischlinge, der Unterschichten und der Frauen orientierten.

Aus der „Kirche der Armen“ scheint so eine volkstümliche, identitäre und ethnische Religion hervorzugehen.

Bibliographie

  • Bücher
    • BOFF Leonardo, Jésus-Christ libérateur, Le Cerf, Paris, 1983
    • BOFF Leonardo, Qu’est-ce qu’une théologie de la Libération ?, Éditions du Cerf, Paris, 1987
    • CASALIS Georges, Un semeur est sorti pour semer, Le Cerf, Paris, 1988
    • CASALIS Georges, Les idées justes ne tombent pas du ciel, Le Cerf, Paris, 1977
    • GUTTIERREZ Gustavo, La libération par la foi, Éditions du Cerf, Paris, 1988

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