Tommy Fallot (1844-1904)

Schon in seiner Jugend war Tommy Fallot darüber erschüttert, wie wenig Interesse der – am Ende des 19. Jahrhunderts sehr zerstrittene – Protestantismus der sozialen Frage entgegenbrachte. Als Pastor wurde er zum Wegbereiter des « Sozialen Christentums ».

Jugend und Studium

  • Tommy Fallot © SHPF

Tommy Fallot wurde 1844 in Le Ban de la Roche im Elsaß geboren, einer Gemeinde, in der die Erinnerung an den Pastor Frédéric Oberlin (1740-1826) noch immer sehr lebendig war. Schon früh wurde er von glaubensstarken Männern aus seiner Familie und Gemeinde beeinflußt, die die mit der Industrialisierung und dem Entstehen des Proletariats einhergehenden sozialen Probleme mit Sorge verfolgten :

  • Sein Großvater Daniel Le Grand (1783-1859), Fabrikant in Le Ban de la Roche.
  • Der Fabrikant Christophe Dieterlin (1818-1875), ein « Gottesmann », der davon überzeugt war, daß sich die Botschaft des Evangeliums in erster Linie an die Armen und Unglücklichen richtet, und zwar unabhängig vom Ursprung ihres Leidens.

1871 nahm Tommy Fallot sein Theologiestudium in Straßburg an der inzwischen « eingedeutschten » Fakultät auf, deren geistiges Niveau ihn jedoch nicht vollauf befriedigte. 1872 legte er dort eine Dissertation über « Die Armen und das Evangelium » vor, deren Titel bereits verrät, welchen Schwerpunkt er seinem Pastorat geben wollte.

Erste Jahre als Pastor

Nachdem er vier Jahre lang als Pastor in Wildersbach (in der Nähe seines Geburtsortes) gearbeitet hatte, verließ er die lutherische Kirche und trat zur evangelischen Freikirche über, die ihn als Pastor an die « Chapelle du Nord » im Arbeiterviertel von La Villette (im Norden von Paris) berief.

Dort lernte er das Evangelisierungswerk des englischen Pastors (Reverend) Robert MacAll kennen, der « Moralsitzungen » abhielt, um den Ärmsten der Armen die Botschaft des Evangeliums zu verkünden.

Der Erfolg dieser Zusammenkünfte erklärt sich aus ihrer Nähe zur Erweckungsbewegung, dieser großen Glaubensströmung, die im 19. Jahrhundert die meisten europäischen Länder erfaßte.

Auf Bitten MacAll’s übernahm Fallot den « Evangelisierungsstützpunkt » von La Villette, der für ihn – neben seiner Gemeindearbeit an der « Chapelle du Nord » – zum Mittelpunkt seines Schaffens wurde. Er merkte jedoch schon bald, daß diese etwas überhastet vorgenommenen Evangelisierungsversuche zu einer Spaltung des Protestantismus führen konnten, da sie theologische und kirchliche Fragestellungen zunehmend ausklammerten.

Soziales und politisches Engagement

Ab 1882 widmete sich Fallot – neben seiner Gemeindearbeit als Pastor – der öffentlichen Sittlichkeit und insbesondere dem Problem der Prostitution.

Infolge einer Begegnung im Jahre 1869 mit Josephine Butler (1828-1906), die in England einen wahren Kreuzzug gegen diese Verrohung führte, gründete er die Französische Liga zur Hebung der öffentlichen Moral (Ligue française pour le relèvement de la moralité publique), die in Paris und ganz Frankreich auf lebhaftes Interesse stieß.

In seiner wachsenden Besorgnis über die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft bekannte er sich schließlich zu den humanen Ideen des Sozialismus, aber eine gewalttätige sozialistische Revolution lehnte er von vornherein ab.

« Es ist mein Sozialismus, der mich gerettet hat », schrieb er 1892 in einem Brief, setzte aber hinzu, er sei entschieden gegen den von manchen Arbeiterführern, die « von Vergeltung und Eroberung träumen », gepredigten « Klassenhaß ». Seine Ablehnung des politischen Sozialismus führte Fallot dazu, einen Sozialistischen Arbeitskreis christlicher Freidenker (Cercle socialiste de la libre pensée chrétienne) zu gründen, aus dem 1882 die Gesellschaft für brüderliche Hilfe und soziale Studien (Société d’aide fraternelle et d’études sociales) hervorging, die wiederum zu der mächtigen Bewegung des Sozialen Christentums (Christianisme social) führte, einem zugleich utopischen und sozialkritischen Gesellschaftsentwurf, der eine christliche Antwort auf die soziale Frage anbot.

Seine Arbeit an diesen verschiedenen Projekten wurde von einigen herausragenden protestantischen Persönlichkeiten unterstützt, wie etwa dem Dekan Raoul Allier oder Pastoren wie Charles Wagner, Wilfred Monod und Elie Gounelle. Die konservativen und bürgerlichen Kreise des Protestantismus waren jedoch eher gegen Fallot eingenommen.

Pastor in der Drôme

Zwölf Jahre angestrengter Arbeit in Paris hatten in Fallots körperlicher Gesundheit ihre Spuren hinterlassen. Auch fühlte er sich von dem letztlich geringen Widerhall enttäuscht, den seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen im institutionellen Protestantismus – wo die Opposition zwischen Orthodoxen und Liberalen sehr lebhaft war – hervorgerufen hatten. Er bat daher um eine einfache Landgemeinde.

Zunächst in Sainte-Croix und dann in Aouste bei Crest in der Drôme verbrachte er die letzten zehn Jahre seines Lebens als wahrer Evangelist der einfachen Menschen.

In seinen zahlreichen Schriften aus diesem Lebensabschnitt erweist er sich als Wegbereiter der überkonfessionellen Verständigung – später « Ökumene » genannt – und trat für ein Zusammengehen der verschiedenen geistlichen und gesellschaftlichen Strömungen innerhalb der Reformierten Kirchen ein.

Bibliographie

  • Bücher
    • BOEGNER Marc, La vie et la pensée de Tommy Fallot, Berger-Levrault, Paris, 1914

Dazugehörige Vermerke