Sébastien Castellion (1515-1563)

Sébastien Castellion wird heute als Apostel der Toleranz und der Gewissensfreiheit angesehen. Für ihn sind unterschiedliche Interpretationen der Bibel möglich, was ein pluralistisches Christentum und die Ablehnung von Gewaltanwendung legitimiert.

Pädagoge, Humanist und Theologe

Sébastien Castellion (1515-1563) © S.H.P.F.

Sébastien Castellion, in der Nähe von Nantua geboren, studiert in Lyon und wird protestantisch. 1540 geht er nach Straßburg, wo er Calvin kennen lernt. Als Calvin nach Genf zurückkehrt, beruft er ihn dazu, das Collège de Rive zu leiten.

Unterschiedliche Auffassungen trennen ihn jedoch von Calvin und hindern ihn daran, Pfarrer in Genf zu werden, wie er es wünschte. Er geht 1545 nach Basel, wo er 1553 nach einigen schwierigen Jahren (er übt verschiedene Berufe aus, darunter Korrektor im Buchdruck) zum Professor für Griechisch an die Universität berufen wird.

Castellion hat viel geschrieben. Im Bereich der Pädagogik hat er kleine Sketche vefasst, die die Kinder spielen, um Latein zu lernen. Er veröffentlicht auch Ausgaben und Übersetzungen klassischer griechischer Autoren.

Die Übersetzung der Bibel

Castellion veröffentlicht 1555 eine Übersetzung der Bibel, Altes und Neues Testament ; sie beruht auf Prinzipien, die zu dem Zeitpunkt als revolutionär gelten. Zuerst gibt er zu, dass gewisse Textstellen obskur sind und es möglich ist, sie auf unterschiedliche Weise zu verstehen. Dann will er sich an die Unwissenden, nicht an Gelehrte wenden und benutzt eine volkstümliche Sprache. Seine Übersetzung schockiert, man denkt, dass Castellion die Erhabenheit der Bibel nicht respektiert, wenn er die „Sprache der Gemeinen“ (« le jargon des gueux ») benutzt. Die heutigen modernen Übersetzungen der Bibel in aktuelles Französisch greifen den Plan Castellions auf.

Gegen die Gewalt

Michel Servet (1511-1553) © S.H.P.F.

Die Hinrichtung Michel Servets 1553 in Genf (wegen seiner Ablehnung der Trinitätslehre) empört Castellion, und unter einem Pseudonym veröffentlicht er Le Traité des hérétiques, eine Anthologie von alten und neuen Texten ; darin verurteilt er die Todesstrafe aufgrund abweichender Meinung bezüglich Doktrin. Théodore de Bèze antwortet mit einer Abhandlung, die die Hinrichtung Servets rechtfertigt. Castellions Erwiderung ist die Schrift Contre la libelle de Calvin, die aus Gründen der Zensur erst 1612 erscheinen wird. In dieser Abhandlung findet sich ein berühmter Satz : « Einen Menschen töten ist nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten » (« Tuer un homme, ce n’est pas défendre une doctrine, c’est tuer un homme »).

1562 veröffentlicht Castellion Conseil à la France désolée ; darin prangert er die “ Nötigung des Gewissens“ an (« le forcement des consciences ») und plädiert dafür, dass man “ beide Konfessionen (katholisch und protestantisch) frei lässt und dass ein jeder ohne Zwang diejenige der beiden, die er möchte, ausüben kann“ (« les deux religions [catholique et protestante] libres, et que chacun tienne sans contrainte celle des deux qu’il voudra »). Die reformierte Synode von Lyon verurteilt 1563 dieses Buch.

Die theologischen Schriften

Castellion schreibt Abhandlungen gegen die calvinistische Prädestinationslehre. Er verfasst ebenfalls ein Buch, dass seine theologischen Einstellungen zusammenfasst, De l’art de douter et de croire, d’ignorer et de savoir. Er stellt ausgesprochen moderne Regeln für das Lesen der Bibel auf (den Kontext, das literarische Genre, die textlichen Varianten sind zu berücksichtigen ; die Botschaft, die von Gott stammt, und deren Formulierung durch den Menschen sind zu unterscheiden), und er setzt sich dort für einen Glauben ein, der aus Vertrauen zu Gott und Nächstenliebe besteht und nicht nur aus dem Festhalten an Doktrinen. Er weigert sich, die Vernunft (die ein Geschenk Gottes ist) und den Glauben als Gegner zu sehen. Er zeigt ein Zwingli nahestehendes Abendmahlsverständnis.

Dank der Remonstranten ( reformierte Dissidenten) von Holland, die seine Manuskripte sammeln, werden diese diversen Abhandlungen nach seinem Tod veröffentlicht. Im 19. und 20. Jahrhundert berufen sich liberale Protestanten auf Castellion und halten die Erinnerung an ihn wach.

Sébastien Castellion, Conseil à la France désolée :

« Je trouve que la principale et efficiente cause de ta maladie, c’est-à-dire de la sédition et guerre qui te tourmente, est forcement des consciences. »

(Ich finde, dass der hauptsächliche und trifftige Grund für die dich quälende Krankheit, das heißt, für Aufstand und Krieg, die Nötigung des Gewissens ist.)

Bibliographie

  • Bücher
    • BUISSON Ferdinand, Sébastien Castellion, sa vie et son œuvre, Paris, 1862
    • CASTELLION Sébastien, Conseil à la France désolée, Droz, Genève, 1967
    • CASTELLION Sébastien, Contre le libelle de Calvin, Éditions Zoé, Genève, 1998
    • CASTELLION Sébastien, De l’art de douter et de croire, d’ignorer et de savoir, La Cause, Paris, 1996
    • CASTELLION Sébastien, De l’impunité des hérétiques, Droz, Genève, 1971, p. 230
    • GIRAN Étienne, Sébastien Castellion et la Réforme calviniste. Les deux Réformes, Hachette, Paris, 1914

Dazugehörige Vermerke

Jean Calvin (1509-1564)

Eine Generation nach Luther gibt der Franzose Jean Calvin der Reformation eine neue Richtung : er erneuert die Kirchenordnung und die Glaubenslehre und bestimmt die Rolle der Kirche im Staat neu.

Musée international de la Réforme (Genève)

Le protestantisme au fil des siècles, du XVIe au XXIe siècle, une présentation interactive.

Protestantismus in der Schweiz

Durch das Wirken Calvins in Genf und Zwinglis in Zürich wurde die Schweiz zur Wiege des reformierten Protestantismus. In mehreren Schritten kam es seit Ende des 12. Jahrhunderts zur Bildung...

Ulrich Zwingli (1484-1531)

Zwingli ist Seelsorger und Theologe. Für ihn ist das Studium der Bibel die Grundlage einer Reformation, die den Kampf gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mit einschließt.

Martin Butzer oder Bucer (1491-1551)

Der gebürtige Elsässer und Humanist hat sich sein ganzes Leben lang dafür eingesetzt, die Einheit der Kirche zu bewahren.