Ungeregeltes Kirchenleben in der « Wüste » (1685-1715)
Als « Wüste » (Désert) wird jener Zeitabschnitt in der Geschichte der französischen Protestanten bezeichnet, in welchem sich die reformierten Gemeinden heimlich im Untergrund zum Gottesdienst versammelten. Zunächst geschah das auf « improvisierte » Art : die Gläubigen wurden von Predigern oder Propheten spontan zusammengerufen, ohne daß es zu geregelten und untereinander zeitlich und örtlich abgestimmten Andachtsübungen gekommen wäre. Diese Versammlungen fanden je nach Region mehr oder weniger häufig statt, und die Zahl der Teilnehmer war höchst unterschiedlich. Sie waren von der Obrigkeit strengstens untersagt, und wenn sie entdeckt wurden, kam es zu harten Bestrafungen : die Männer wurden zur Galeerenstrafe verurteilt, die Frauen eingekerkert und die Prediger hingerichtet. Die meisten dieser Versammlungen wurden im Languedoc und in den Cevennen abgehalten. Die im Dauphiné entstandene Bewegung der Propheten sprang um 1700 auf die Cevennen über und trug dort zum Ausbruch des Kamisarden-Aufstandes (1702-1704/1710) bei.
Die Wiedereinrichtung der Kirchen auf der Synode von Montèzes
1715 begann die Wiedereinrichtung der Kirchen unter der Leitung des jungen Predigers Antoine Court. Am 24. August 1715 setzten sich vier Laien und fünf Prediger zur Beratung in Montèzes (Departement Gard) zusammen. Später gab man diesem Treffen den Namen Synode von Montèzes, denn es war für die Zukunft der reformierten Kirchen wegweisend. Auf ihr beschlossen die neun Männer, die Versammlungen der „Wüste“ zu regeln, die Propheten (besonders die Frauen unter ihnen) zum Schweigen zu bringen und die persönlichen Offenbarungen der « Erleuchteten » durch eine auf der Bibel fußenden Predigt zu ersetzen. Sie verurteilten jede Form des bewaffneten Widerstandes gegen die Obrigkeit und befürworteten friedliche Versammlungen, auf denen für den König gebetet werden sollte.
Die wichtigste Maßnahme war die Wiedereinsetzung der Ältesten gemäß der überkommenen reformierten Kirchenordnung. Die Ältesten sollten wiederum von der Gemeinde gewählt werden. Zu ihren künftigen Aufgaben gehörte es, die geheimen Gottesdienste einzuberufen (wobei sie äußerste Vorsicht zu üben hatten), für die Wanderprediger sichere Unterkünfte und ortskundige Führer zu besorgen und Spenden für die Armen einzusammeln.
An dieser ersten, von Antoine Court geleiteten Synode der „Wüste“ nahmen unter anderen der Prediger Jean Huc, ein ehemaliger Kamisarde der Truppe von Rolland, sowie Jean Vesson, ein ehemaliger Prophet, und Pierre Durand, der Bruder von Marie Durand teil.
Die in Montèzes beschlossenen Verfahrensregeln wurden nach und nach nicht nur in den Cevennen, sondern auch in den benachbarten Regionen beachtet. Während der gesamten Zeit der « Wüste » wurden im Untergrund Provinzial- und später dann auch Nationalsynoden abgehalten. Die Beschlüsse dieser Synoden sind bis heute archiviert.
Die Kirchen während der Regentschaft (1715-1723)
Ludwig XIV. starb am 1. September 1715. Sein Thronfolger Ludwig XV. (1710/1715-1774) war zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind. Daher kam es zu einer Regentschaft, die dem Herzog Philippe von Orléans (1674-1723), dem Neffen des verstorbenen Königs, übertragen wurde. Die Protestanten setzten große Hoffnungen in den Regenten, der für seine gemäßigten Ansichten bezüglich der Religion bekannt war und persönlich nichts gegen die Protestanten hatte. Er wurde jedoch von seinem Kabinett dazu überredet, die politische Linie von Ludwig XIV. weiterzuführen und die Versammlungen der « Wüste » zu unterdrücken. Manchmal ließen die Verfolgungen aber auch nach, etwa wenn die Soldaten an die Landesgrenzen abgezogen wurden oder als sie ihre Quartiere aus Furcht vor Ansteckung während der Pestepidemie von 1720 monatelang nicht verließen.
Wie viele Versammlungen in diesen Jahren abgehalten wurden, läßt sich nur schwer schätzen, denn es sind uns nur diejenigen bekannt, die entdeckt wurden. Aber auf eine umzingelte Versammlung kamen wahrscheinlich hundert, die ungestört verliefen. Es ist unzweifelhaft, daß in der Grafschaft Foix, im Poitou und sogar in der Picardie heimliche Gottesdienste stattfanden, obwohl es dort zu keinen Verhaftungen kam.
Die im Refuge lebenden französischen Pastoren verstanden die Vorgehensweise Antoine Courts nicht und sahen in den Versammlungen einen Akt der Revolte gegen den König. Daher kamen sie dem Aufruf Courts nicht nach, wieder nach Frankreich zurückzukehren. So verfiel Antoine Court auf die Idee, eine eigene Ausbildungsstätte für die künftigen Pastoren der « Wüste » zu schaffen : das Predigerseminar von Lausanne, das ab 1726 eingerichtet wurde.
Die Versammlungen der « Wüste » in der Praxis
Bis 1743 wurden die Versammlungen unter der Leitung von Pastoren oder Anwärtern auf das Pastorenamt nachts an abgelegenen Orten abgehalten. 1718 gab es nur drei Pastoren : Pierre Corteiz, ein ehemaliger Kamisarde, der in Zürich ordiniert worden war ; Antoine Court, der seine Ordination von Corteiz in Frankreich auf einer Untergrundsynode erhielt, und Jacques Roger, ein in Deutschland ausgebildeter und ordinierter Pastor, der 1715 nach Frankreich zurückkehrte und die « Wüste » im Dauphiné betreute.
Nur die Pastoren waren dazu ermächtigt, den Gläubigen auf den Versammlungen das Abendmahl zu reichen. Sie nahmen auch Taufen und Eheschließungen vor, aber viele (zwangsbekehrte) Protestanten heirateten in der katholischen Kirche und ließen ihre Kinder dort auch taufen. Wie die Akten der Synoden der « Wüste » belegen, drangen die Pastoren ständig darauf, daß sich die Gläubigen nicht in der katholischen Kirche trauen ließen und auch nicht zur Messe gingen. Diese Ermahnungen verhallten jedoch meist ungehört, denn es war in der Tat riskant, sich offen von der katholischen Kirche abzuwenden : die Eheschließungen in der « Wüste » waren nicht gesetzlich anerkannt, was bedeutete, daß die daraus hervorgegangenen Kinder als unehelich galten und daher nicht erbberechtigt waren. Das Problem der gesetzlichen Anerkennung der in der « Wüste » geschlossenen Ehen und des Rechtsstandes der Kinder wurde mit dem Umsichgreifen der Versammlungen ab 1745 immer drängender.
Nach zähen (inoffiziellen) Verhandlungen mit Regierungsmitgliedern und vielen Eingaben an den König wurde schließlich 1787 das Toleranzedikt erlassen, das der Rechtsunsicherheit der Protestanten ein Ende setzte.