Auf der Seite von Dreyfus
Viele Protestanten engagieren sich in dem Lager, das sich für Dreyfus einsetzt. Sie wissen, dass das Schicksal der religiösen Minderheiten tragisch sein kann und sind beunruhigt über protestantenfeindliche Töne, die mit dem Antisemitismus von Drumont und seiner Anhänger einhergehen. Für sie besteht eine Parallele zwischen Calas und Dreyfus. Als Gabriel Monod mit seinem Engagement für Dreyfus an die Öffentlichkeit geht, schreibt er : « Ich hoffte, diese Initiative würde von einem Katholiken kommen und es würde ein neuer Voltaire aufstehen, um diesen neuen Calas zu verteidigen. Ich hätte befürchtet, meine Eigenschaft als Protestant und die blödsinnigen Attacken, die mir diese Eigenschaft eingebracht hat, würden bei einem bestimmten Publikum den Wert meiner Ansichten schmälern » (j’espérais que cette initiative viendrait d’un catholique et qu’un nouveau Voltaire surgirait pour défendre le nouveau Calas. J’aurais craint que ma qualité de protestant et les stupides attaques que m’ont valu cette qualité diminuassent auprès d’un certain public la valeur de mes jugements).
Das Eingreifen Scheurer-Kestner
1897 zeigen Bernard Lazare und Mathieu Dreyfus unter anderen dem Vizepräsidenten des Senats, dem Protestanten Scheurer-Kestner, das Dossier, das sie für die Rehabilitierung ihres Freundes und Bruders zusammengestellt haben. Diese Aktenstücke überzeugen Scheurer-Kestner von der Unschuld des Hauptmanns. Nach einigen Konsultationen zögert er dann auch nicht, mittels seiner Stellung eine öffentliche Debatte anzustoßen. Der Weg zur Wiederaufnahme des Verfahrens tut sich auf. Entscheidende Protagonisten auf diesem Weg sind Zola, Colonel Picquart, die Liga für Menschenrechte (Ligue des Droits de l’Homme). Als Lohn für seinen Einsatz wird Scheurer-Kestner vom Senat getadelt. 1898 verliert er sein Amt als Vizepräsident, bleibt jedoch als Senator auf Lebenszeit weiterhin Mitglied des hohen Hauses.
Zu den protestantischen Dreyfusarden gehören des Weiteren Raoul Allier, Ferdinand Buisson, Albert Reville, André Gide. Der einzige Abgeordnete der Rechten, der für die Wiederaufnahme des Verfahrens gestimmt hat, war der Protestant Conrad de Witt, der Schwiegersohn von Guizot.
Die unverzügliche und totale Ablehnung des Antisemitismus bei den Protestanten, sowohl bei den Pastoren als auch bei den Laien, wird von den Polemikern auf Seiten der Antidreyfusarden hervorgehoben und als „heimliches Einverständnis“ zwischen Protestanten und Juden verunglimpft. Dieses Argument geht ein in den Antiprotestantismus, der das beginnende 20. Jahrhundert prägt, als die Rechte die Republik als „jüdisch-protestantisch“ abstempelt. Mit der Dreyfus-Affäre wurde auch der alte protestantische Antiklerikalismus mit seinem Streben nach Gerechtigkeit neu belebt : « (…) den französischen Pastoren, Söhnen von Hugenotten, hat sich der Abscheu vor Geheimgerichten, dem Fällen summarischer Urteile durch Militärgerichte, dem Gebrauch des Säbels zur Verteidigung der Wahrheit und vor einer Staatsraison, die ohne Prüfung und mitleidlos das Recht des Menschen, die Freiheit des Staatsbürgers zu Boden streckt wird, in die Seele gebrannt » (fils de huguenots (…) les pasteurs français ont dans l’âme l’horreur des tribunaux secrets, de la justice expéditive des tribunaux militaires, du sabre préposé à la défense de la vérité , et de la raison de l’État terrassant sans examen et sans pitié le droit de l’homme, la liberté du citoyen, L. Lafon, Zitat in A. Encrevé, op. cit.).