Der Ursprung der Erweckungsbewegungen
In der protestantischen Welt bezeichnet man damit jene Bewegungen, die einen als schläfrig, fade und eingefahren angesehenen Glauben zu neuem Leben erwecken wollen. Sie wollen eine Frömmigkeit hervorbringen, die existentieller, gefühlsbetonter, engagierter, überschwänglicher ist, die sich eher auf eine persönliche Erfahrung als auf das Festhalten an einer Lehre gründet. Sie stellen einen Protest gegen eine Religion dar, die vom Intellekt beherrscht wird. Sie räumen dem Gefühl einen großen Stellenwert ein in Übereinstimmung mit dem Geist der Romantik, sie stehen der Definition des Glaubens als Gefühl ganz nahe, die man bei dem deutschen Theologen Schleiermacher antrifft, der auch einer der Väter des Liberalismus ist. Sie schöpfen aus dem englischen Methodismus und dem lutherischen Pietismus. Sie zeichnen sich durch folgende Merkmale aus :
Der Aufruf zur Bekehrung, der nicht bedeutet, ‚die Religion zu wechseln‘, sondern ‚von einem konventionellen zu einem lebendigen Glauben überzugehen‘. Die Bekehrung, die als eine ‚neue Geburt‘ angesehen wird, weil sie die Existenz völlig verändert, ist eine geistige und existentielle Erfahrung, die man zeitlich und örtlich genau festlegen kann (sie fand an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde, an einem bestimmten Ort statt). Sie ist auf das Wirken Gottes im Herzen des Bekehrten zurückzuführen.
Die leidenschaftliche Begeisterung spielt eine wesentliche Rolle. Der Gesang trägt dazu bei, ebenso die Predigt, die darauf abzielt, die Zuhörer zu erschüttern und gefühlsmäßig zu rühren. Einige Erscheinungen von Hysterie im Verlauf der Erweckungskampagnen haben Misstrauen und Spott hervorgerufen.
Der sehr große Nachdruck, der auf die Bibel gelegt wird. Man richtet Bibelgruppen ein, um sie besser kennenzulernen. Man wendet eine eher existentielle als historische oder philologische Lesweise an. Die Erweckungsbewegungen arbeiten an der Verbreitung der Bibel durch die Bibelgesellschaften.
Sie nehmen die klassischen Themen wieder auf : das Heil des Sünders durch das Opfer Christi am Kreuz, wobei sie die Erfahrung der Sünde und der Wiedergeburt betonen. Sie entwickeln sich unter dem Einfluss des schweizerischen Theologen Alexandre Vincent, der ein meisterhafter Denker der Erweckung und des Liberalismus ist.
Die Bedeutung der Evangelisation. Jeder bekehrte Christ muss daran arbeiten, das Evangelium zu verkünden und den Glauben durch Wort und Schrift zu verbreiten. Das Austragen von Blättern und kleinen Traktaten entwickelt sich. Die Erweckungsbewegungen richten als erste zahlreiche Wohltätigkeitseinrichtungen und Missionsgesellschaften in fremden Ländern ein (besonders in Afrika und im Pazifik).
Sie sind in gesellschaftlicher Hinsicht recht fortschrittlich ; sie kümmern sich um Erziehung, Gesundheitspflege, Hilfe für Bedürftige. Die Frauen spielen dabei eine wichtige Rolle und übernehmen verantwortungsvolle Aufgaben, die denen der Männer fast gleichkommen.
Verbreitung der Bewegung in Frankreich
Schweizerische und besonders britische Prediger ziehen durch Frankreich und verbreiten dort die Erweckung. Ami Bost und Charles Cook sind die bekanntesten. Sie führen angelsächsische Gewohnheiten ein : Treffen in kleinen Gruppen statt großer Versammlungen, Singen von Kirchenliedern nach Melodien und Texten im Stil der Romantik, während die Reformierten traditionsgemäß nur Psalmen sangen.
Die Erweckung fasst auch in den Salons der Großbürgertums und des Adels von Paris Fuß, auch im Salon von Madame de Staël, die sich sehr für den Kampf gegen die Sklaverei einsetzt, und im Salon ihrer Tochter, der Herzogin von Bröglie. Die Kapelle Taitbout, eine unabhängige Kirche, wird von einer kosmopolitischen und eleganten Schicht besucht, deren finanzielle Unterstützung für die protestantische Wohltätigkeitsarbeit entscheidend sein wird.
Die Erweckung erreicht auch die Provinz und die ländlichen Gebiete. In Hautes-Alpes erzielt Félix Neff, der Evangelisation, Alphabetisierung und wirtschaftliche Entwicklung vereinigt, eine große Wirkung.
Einerseits gründet die Erweckungsbewegung Gemeinschaften (oft Dissidenten von reformierten Gemeinden), die vom Staat unabhängig sind. Andererseits dringt man in Konkordatsgemeinden ein, ist dort präsent und aktiv, oft in abgeschwächter Form. Die religiöse Organisation des 19. Jahrhunderts gewährt jeder Gemeinde eine große Eigenständigkeit. Orthodoxe und Liberale halten an den Kirchen fest, die mit dem Staat verbunden sind, weil dieses Band es ihrer Meinung nach verhindert, dass sich kleine Gruppen der Gemeinden bemächtigen und sie annektieren. Die Anhänger der Erweckung sind eher für die Trennung von Kirche und Staat, die, so meinen sie, es ihnen erlauben würde, ihren Einfluss zu verstärken.