Der Liberalismus

Den theologischen Liberalismus kennzeichnen im wesentlichen eine große Freiheit bezüglich der Lehre und eine auf der historisch-kritischen Methode gründende neue Art die Bibel zu lesen.

Ursprünge des Liberalismus

Der Begriff ‚liberaler Protestantismus‘ bezeichnet eine ganze Palette von Themen und Bewegungen, die sich mehr oder weniger nahe stehen, und keine organisierte Strömung.

Der liberale Protestantismus hat seine Wurzeln im 16. Jahrhundert (mit Castellion und Socin). Im 18. Jahrhundert schafft der Einfluss der Philosophie der Aufklärung ein günstiges Klima für seine Entwicklung. Diese Philosophie beeinflusst die protestantische Universitätstheologie in der Schweiz und auch den Unterricht, der im Seminar von Lausanne erteilt wird, das von Antoine Court während der Verfolgungen gegründet wurde, um die französischen Pfarrer auszubilden.

Der liberale Protestantismus erreicht Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Werk des Deutschen Friedrich Schleiermacher, das Pfarrer Samuel Vincent in Frankreich bekannt macht, theologische Tragweite und Konsistenz. Bis zum ersten Weltkrieg beherrscht er die Universitätstheologie in Deutschland, etwas weniger in Frankreich.

Kennzeichen des Liberalismus

Im 19. Jahrhundert stehen viele protestantische Intellektuelle Frankreichs unter dem liberalen Einfluss, der sich durch folgende Merkmale auszeichnet :

  • Große Aufmerksamkeit wird der Kultur geschenkt. Man will kein ‚barbarisches Christentum‘, wie Schleiermacher es ausdrückt, das heißt, fern von den Ideen und Werten der modernen Welt. Man wünscht sich Pfarrer und Gläubige, die eine gute Allgemeinbildung haben und fähig sind, an den großen Debatten des Augenblicks teilzunehmen. Pfarrer Vincent versucht, die theologische Kultur der französischen Protestanten durch die Gründung einer Zeitschrift zu fördern.
  • Die Ablehnung eines Gegensatzes von Glaube und Vernunft führt dazu, das Übernatürliche im Christentum zu verringern. Die Liberalen wollen einen durchdachten und überlegten Glauben. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie jedoch weder Rationalisten noch reine Intellektuelle. Sie sind geprägt von der zeitgenössischen Romantik, betonen die religiöse Erfahrung, das konkrete Handeln, die moralische Strenge, was sie den Erweckungsbewegungen annähert.
  • Eine Umkehrung des Begriffs des Dogmas in der Tradition von Schleiermacher. Das Dogma wird nicht als Gegenstand des Glaubens betrachtet, der einem sagt, was man glauben muss. Man sieht in ihm einen Ausdruck des Glaubens, der einem sagt, wie eine Gruppe Menschen auf Grund ihrer Kultur und Sensibilität das, was sie glaubt, formuliert hat. Folglich ist es relativ und revidierbar.
  • Ein Studium der Bibel gemäß den Methoden der philologischen und literarischen Kritik, die man für die weltliche Literatur verwendet. Ab 1850 gelangen die Arbeiten der Deutschen, besonders die der radikalen Schule von Tübingen, nach Frankreich. Die Reaktionen sind unterschiedlich : Begeisterung bei den einen, moderate Haltung bei anderen, schließlich große Feindseligkeit bei jenen, die befürchten, sie zerstörten die Autorität der Bibel und berauben Jesus seines einzigartigen Charakters.

Die Ideen und Methoden des Liberalismus spalten den Protestantismus. Am Ende des 19. Jahrhunderts legen sich die Konflikte, denn die extremsten Liberalen haben ihr Amt aufgegeben. Die Debatten werden sich unter dem Einfluss des Symbolfideismus und des sozialen Christentums verlagern und vertiefen.

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Dazugehörige Vermerke

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  • Die Erweckungsbewegungen

    Die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts stehen in engem Zusammenhang mit der Romantik. Sie führen zu einer existentielleren, gefühlsbetonteren‚ erweckten‘ Frömmigkeit gegenüber einem Glauben, der als fade und eingefahren angesehen wird.
  • Der Symbolfideismus

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  • Das soziale Christentum

    Am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen, Pfarrer, die vom Elend der Arbeiterschaft berührt sind, über soziale Gerechtigkeit nachzudenken.
  • Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834)

    Dieser deutsche Theologe übte einen bertächtlichen Einfluss auf den europäischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts aus. Sein Anliegen war, Christentum und Kultur nicht voneinander zu trennen.