Das Nachleben oder die Entstehung der Idee der Toleranz
Castellion, der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten war, ist ein Vordenker der Idee der Toleranz. Erst durch die Arbeiten von Bonnet, Buisson und Delormeau wurde er wiederentdeckt. Seine Originalwerke sind vor allem in den Niederlanden erhalten geblieben, anderswo gibt es kaum noch welche.
Dennoch war er auf dem Gebiet der Ideengeschichte inspirierend. Die Philosophie der Aufklärung verdankt ihm viel, von Locke mit seinen Briefen über die Toleranz aus dem Jahr 1689 bis hin zu Voltaire und seiner Abhandlung über die Toleranz aus dem Jahr 1763. Vor allem aber hatte er direkten Einfluss auf den Weg späterer Denker wie Pierre Bayle, Rabaut Saint-Étienne und Ferdinand Buisson.
Pierre Bayle
Pierre Bayle, Sohn eines protestantischen Pfarrers, wurde in Frankreich verfolgt und flüchtete nach Rotterdam, wo er in seinem Buch “Über die Toleranz, philosophischer Kommentar” (De la tolérance, commentaire philosophique) 1686, lange vor Voltaire, ein starkes Plädoyer für die Toleranz hielt. Er verkündete das Recht auf Gewissensfreiheit, das nicht unterdrückt werden darf, wenn es um Glaubensfragen geht: „Es gibt nichts Abscheulicheres, als Bekehrungen unter Zwang zu vollziehen„.
In seinem letzten Werk „Das historisch-kritische Wörterbuch“ (Le Dictionnaire historique et critique) von 1695-1697, aus dem alle Philosophen des 18. Jahrhunderts schöpften, entwickelte er unter anderem die Idee, dass Ungewissheit in der Moral und in den Religionen die Grundlage für Toleranz ist.
Rabaut Saint-Étienne
Jean Paul Rabaut, genannt Rabaut Saint-Etienne, war Pastor, Sohn und Bruder von Pastoren und spielte eine wichtige Rolle während der Revolution.
Zuvor hatte er 1787 mit Turgot und Malesherbes das Toleranzedikt ausgehandelt, eine implizite Absage an die Aufhebung des Edikts von Nantes.
Er war aktiv an der Ausarbeitung der Menschenrechtserklärung beteiligt: „Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.” (Art. X)
Als Mann der Überzeugung kämpfte er stets für die Anerkennung der Gewissensfreiheit: „Es ist nicht einmal die Toleranz, die ich fordere, es ist die Freiheit! Die Toleranz! Die Unterstützung! Die Vergebung! Die Milde! Ideen, die im höchsten Grade ungerecht gegenüber Andersdenkenden sind, wenn es denn wahr ist, dass eine andere Meinung ein Verbrechen wäre.
Toleranz! Ich verlange, dass dieses ungerechte Wort geächtet wird – und es wird geächtet werden -, das uns als Bürger darstellt, die Mitleid verdienen, als Schuldige, denen man verzeiht, wenn sie durch Zufall, oft durch Erziehung, dazu gebracht wurden, anders zu denken als wir.“ (Rede, gehalten am 28. August 1789).
Ferdinand Buisson
Ferdinand Buisson stammte aus einer protestantischen Familie, war Hochschuldozent für Philosophie und ging während des Zweiten Kaiserreichs ins Schweizer Exil. Von 1866 bis 1870 war er Professor an der Akademie von Neûchatel und gründete dort die „Vereinigung des liberalen Christentums“ (Union du Christianisme libéral). Als Befürworter der „Abschaffung des Krieges durch Bildung“ war er in Frankreich von 1879 bis 1896 Direktor für Grundschulunterricht.
Er war der eigentliche Entdecker von Sebastian Castellion, dem Mann, der in seinen Augen sein ganzes Leben der Verteidigung der Gewissensfreiheit gewidmet hat.
„Mit dieser Kraft und Deutlichkeit nicht nur die Toleranz, sondern auch die Achtung des Gewissens zu lehren, mitten im 16. Jahrhundert, sowohl gegenüber den Katholiken als auch gegenüber den Protestanten, bedeutete, der Zeit voraus zu sein, bedeutete, zweihundert Jahre im Voraus der Stimme der Revolution Gehör zu verschaffen, die die Stimme der Vernunft und der Menschenrechte ist.“ Ferdinand Buisson.
Vorankommen in der Ausstellung
Dazugehörige Vermerke
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Sébastien Castellion (1515-1563)
Sébastien Castellion wird heute als Apostel der Toleranz und der Gewissensfreiheit angesehen. Für ihn sind unterschiedliche Interpretationen der Bibel möglich, was ein pluralistisches Christentum und die Ablehnung von Gewaltanwendung legitimiert.