Das französische Luthertum
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind die lutherischen Kirchen gemäß den Verfügungen der organischen Artikel von 1802 organisiert. Zahlreiche Lutheraner lassen sich in Frankreich nieder, vor allem nach dem Krieg von 1870 und dem Verlust des Elsass, aber viel schließen sich auch den reformierten Kirchen an.
Das Luthertum im Elsass und im Gebiet von Montbéliard
Das elsässische Luthertum wird jedoch von einer widersprüchlichen Bewegung durchdrungen : wenn im Nordelsass ein sehr orthodoxes Luthertum herrscht, so ist das nicht im Zentralelsass der Fall, wo der Einfluss der Pietisten sehr groß ist. In Straßburg wird das Großbürgertum, das stark von der Kultur der Aufklärung geformt ist und sehr von der theologisch Fakultät, die von Kant und Schleiermacher geprägt ist, beeinflusst wird, immer liberaler. Aber es bleibt seiner Kirche verbunden, selbst wenn man sie kaum noch besucht, außer an großen Festtagen.
In dieser Hinsicht gibt es einen Schnitt zwischen der Führungsschicht und dem Rest der Bevölkerung, Kleinbürgern und Handwerkern, welcher der soliden Tradition des alten lutherischen Kerns treu bleibt. Aber der Kontrast ist groß zwischen den Gläubigen, die noch religiös sind, und Seelsorgern, die immer weltlicher werden, so dass Mitte des 19. Jahrhunderts Pfarrer Horning von der Kanzel in Saint-Pierre-le-Jeune herabrief, man solle das Elsass von neuem evangelisieren. In der Tat ist ein Präsident des Konsistoriums der Meinung ist : „Die Pfarrer scheinen die symbolischen Bücher, auf die sie ihren Eid leisten, zu vergessen und schaffen es, Predigten zu veröffentlichen, in denen der Name Christi nicht ausgesprochen wird !“.
Das elsässische Luthertum wird sich jedoch unter dem Einfluss der Erweckung mit der Schaffung unzähliger diakonischer Werke befassen, von den die meisten überleben ; es ist wahr, dass dies im Einklang mit dem steht, was ein Kircheninspektor den ‚rationalisierenden christlichen Moralismus‘ nennt.
Die Organisation des Luthertums ab 1802
Das französische Luthertum im 19. Jahrhundert konzentriert sich im wesentlichen auf das Elsass und das Land von Montbéliard, ehemalige Reichsgebiete. Bei der Volkszählung von 1801 erfasst man in Frankreich 197.054 Lutheraner gegenüber 485.316 Reformierten. Als die organischen Artikel in Kraft treten, regen einflussreiche Calvinisten wie Robert Saint-Etienne und der ehemalige Pfarrer Jean-Bon-Saint-André, der Präfekt des rheinischen Departements Mont-Tonerre geworden war, die Vereinigung der Lutheraner und der Reformierten an (da es „fast keine Unterschiede zwischen (ihrem) Gottesdienst gibt …, haben die beiden Sekten (sic) problemlos die gleichen liturgischen Bücher angenommen“. Die Kirche von Genf ist ihrerseits der Meinung : „Es ist sehr wichtig, diesem abscheulichen Schisma ein Ende zu bereiten“. Die Lutheraner des Elsass, die hinter dem stehen, was das Generalkonsistorium werden wird, sind entschlossen dagegen.
Das französische Luthertum organisiert sich also entsprechend dem Gesetz vom 18. Germinal des Jahres 10, das die grundlegenden Artikel der protestantischen Religionsausübung einschließt, zusammen mit einem in Straßburg eingerichteten Generalkonsistorium, sechs Aufsichtsbehörden und einer Konsistorialkirche in Paris. Die Behörde von Montbéliard hängt von Straßburg ab.
Das Luthertum in Paris
Die Situation ist völlig anders in Paris : die Konsistorialkirche von Paris hat die Zahl ihrer Pfarrer zwischen 1820 und 1860 vervierfacht auf Grund der Ankunft von elsässischen, aber auch deutschen Handwerkern und Händlern. Diese sind fromm und dem orthodoxen Luthertum eng verbunden ; diese Tendenz wird verstärkt durch das Gewicht der Tradition, die von der alten Gemeinschaft, die in der Kapelle der schwedischen Botschaft vor der Revolution zusammenkam, geschaffen wurde. Sie ist der Ursprung der ersten lutherischen Gemeinde von Paris, die der Billettes, die durch kaiserliches Dekret 1808 gegründet wurde. In Billettes feiert man den Gottesdienst nach der schwedischen Liturgie, und diese Tradition dauert heute fort.
Das Wachstum dank der lutherischen Elsässer
Der Krieg von 1870 wird diese Situation stark verändern. Die meisten der 286.000 Lutheraner werden deutsch nach der Niederlage, dem Vertrag von Frankfurt vom Mai 1871 und der Abtretung des Elsass an das Deutsche Reich. Jedoch entscheidet sich ein Teil des lutherischen Großbürgertums für Frankreich mit einer Reihe von Handwerkern, während die Landbevölkerung in Elsass-Lothringen bleibt. 1872 gibt es kaum mehr als 45.000 Lutheraner in Frankreich, 30.000 im Gebiet von Montbéliard, etwa 10.000 in Paris und Lyon. 1500 bis 2000 sind über das restliche Frankreich verstreut, 4000 bis 5000 sind in Algerien.
Von da an entsteht die evangelisch-lutherische Kirche von Frankreich mit einer Generalsynode und zwei Aufsichtsbehörden, eine in Paris und eine in Montbéliard, die in sechs Konsistorien aufgeteilt ist, von denen eins in Algerien ist.
Der Rückgang
Am Anfang integriert sich das lutherische Bürgertum elsässischen Ursprungs in die lutherische Kirche von Paris, aber nach und nach schließt es sich zwischen 1890 und 1940 den reformierten Gemeinden an : wir denken an einige große Namen, die noch 1885 in den Synodalinstanzen von Paris vertreten waren, Appia, Boegner, und Goguel, den man vom Beginn des 20. Jahrhunderts an als Pfarrer oder als Gläubigen einer reformierten Kirche antrifft. 1880 gibt es in der höheren protestantischen Gesellschaft eine ganze Anzahl Lutheraner ; ein Jahrhundert später finden sich ihre Nachkommen aus gesellschaftlichen oder ganz einfach theologischen Gründen – wenn sie überhaupt noch Protestanten sind – in das reformierte Milieu integriert.
Ab 1871 – und das wird bis 1918 fortdauern – ist das französische Luthertum nur eine kleine, größtenteils von ihren Wurzeln getrennte Kirche, die trotz der Bemühungen einiger im Schatten der reformierten Welt lebt.
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