Das Elsass von 1871 bis 1918

Die Annexion des Elsass und eines Teils Lothringens, des Departements Moselle, an das Zweite Deutsche Reich (Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871) bedeutet für die Bevölkerung einen gewaltigen Schock und wird trotz des von Gambetta verfassten „Protests von Bordeaux“ („protestation de Bordeaux“) als Preisgabe durch die in Bordeaux tagende Parlamentarische Versammlung empfunden.

Das 26. Land

  • Paysans alsaciens d'Oberseebach, Bas-Rhins
    Elsässische Bauern von Oberseebach, Bas-Rhin © La Voix Protestante

Dieses 26. Land wird unmittelbar vom Kaiser und der Reichskanzlei verwaltet, die sämtlichen französischen Strukturen ihre Verwaltung aufzwingen. Es ist die Zeit des „Diktaturparagraphen“ mit dem Maulkorb für die Presse und der Ernennung außerordentlicher Kommissare an die Spitze großer Städte (wie die des Polizeidirektors zum Bürgermeister von Straßburg).

Die Elsässer schwanken zwischen Bleiben, und damit der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit, und Gehen, was den Bruch mit ihrer gesamten Vergangenheit und das Zurücklassen ihres Besitzes bedeutete. Mehr als 50.000 Elsässer (im Wesentlichen höhere Angestellte, Angehörige der freien Berufe, Intellektuelle) gehen nach Frankreich oder in die Schweiz, und zahlreiche Politiker und Bürgermeister treten zurück, um nicht den Treueid auf den Kaiser leisten zu müssen.

Da die Forderung nach Autonomie anhält, organisiert ein Gesetz (31. Mai 1911) schließlich ein föderales System, das dem der anderen deutschen Bundesstaaten nahe kommt : es werden drei Vertreter in den Bundesrat in Berlin entsandt und zwei lokale Kammern geschaffen, der Kaiser behält jedoch ein Vetorecht gegen Gesetze. Die Macht verbleibt im Wesentlichen in den Händen der „Vieux- Allemands“ („Alt-Deutsche“) genannten deutschen Beamten.

Die auf Initiative Bismarcks geleistete gesetzgeberische Arbeit ist beträchtlich : Steuerreform, Anpassung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, Modernisierung der Sozialgesetzgebung und der Berufsorganisationen, Universitätsreform, insbesondere Neuordnung der Universität Straßburg. 1909 wird ein Gesetz vorgeschlagen, das die Unterrichtung des Französischen in allen Gemeinden, „die es für notwendig erachten“, zur Pflicht macht.

Die Kirchenverfassung

Nach dem Konkordat wurde die Verfassung der Kirchen von Elsass-Lothringen geregelt durch die „Articles organiques“ vom 8. April 1802 und mehrere ergänzende Ministerdekrete von 1852-1853, deren wichtigstes das Gesetzesdekret vom 26. März 1852 über die Neuordnung des protestantischen Kultus war. Es wurde unterschieden zwischen den anerkannten und von Staat und Gemeinden subventionierten Kulten und den nicht anerkannten Kulten. Anerkannt waren nur die protestantischen Kulte der Reformierten und der Lutheraner.

1871 wurde die auf dem Konkordat gründende gesetzliche Regelung, die die reformierte Kirche und die Kirche des Augsburgischen Bekenntnisses an den Staat bindet, von den deutschen Behörden bestätigt. Der diesen Bereich regelnde Erlass stellte fest : Staat und Kirchen verfolgen die gleichen Ziele, der Staat betrachtet es als heilige Pflicht, die Kirchen zu schützen und ihre Unabhängigkeit und Autonomie zu gewährleisten, während die Kirchen im Gegenzug den den zivilen Behörden geschuldeten Gehorsam lehren müssen und dass keine Eingriffe der kirchlichen Gewalt in die zivile Gewalt geduldet werden. Die Annexion von Elsass-Lothringen führte zu Umgestaltungen bei den kirchlichen Institutionen.

Da die höheren Instanzen der elsässischen Lutheraner (Kirche des Augsburgischen Bekenntnisses von Elsass-Lothringen, ECAAL) in Straßburg zentralisiert waren, konnten sie weiter bestehen und den deutschen Kirchen gegenüber ihre Autonomie behalten ; die französischen Lutheraner mussten sich dagegen infolge ihrer Trennung vom Direktorium und vom Oberkonsistorium, die in Straßburg verblieben waren, neu organisieren, und dem Gesetz vom 1. August 1879 und dem Dekret vom 12. März 1880 entsprechend entschieden sie sich für das Synodalsystem. Umgekehrt waren die elsässischen Reformierten nun vom Zentralrat der Reformierten Kirchen Frankreichs getrennt, da diese Institution jedoch lediglich eine verwaltungsmäßige Kompetenz hatte, fand man sich mit ihrem Fehlen leicht ab. Die Reformierten des Mosel-Gebiets waren jetzt zwar ebenfalls von den Reformierten des Departements Meurthe et Moselle getrennt, aber in der Gegend von Metz zahlreich genug, um ein Konsistorium einrichten zu können. Von einigen Strukturänderungen und der Anpassung einiger Artikel an die deutschen Gegebenheiten abgesehen, wurde das Wesentliche gewahrt.

Im schulischen Bereich wurde das Gesetz Falloux vom 15. März 1850, das Unterrichtseinrichtungen in religiöser Trägerschaft begünstigte, 1881 unter der deutschen Herrschaft ergänzt, wobei der konfessionelle Charakter der Grundschule verstärkt wurde.

Das politische Leben

Das politische Leben wird von drei großen Parteien bestimmt :

  • Die Liberalen Partei, der vor allem das protestantisch-reformierte und das jüdische Bürgertum in den Städten angehörte, das ausgesprochen Frankreich freundlich ist : Das „Nous maintiendrons“ (Wir werden nicht aufgeben“) der Industriellen von Mülhausen (Mulhouse) ist bekannt. Neben diesen oft antiklerikalen Notabeln gibt es eine starke autonomistische Strömung, bei der die Lutheraner und das ländliche Milieu (Pietisten oder „Orthodoxe“) vorherrschend sind und die oft von den deutschen Behörden mit Wohlwollen betrachtet wird.
  • Die Zentrumspartei mit etwa 40 % der Bevölkerung, zum Großteil katholisch, steht für ein konfessionell bestimmtes, gegen den Kulturkampf und den preußischen Liberalismus gerichtetes Wahlverhalten.
  • Die linksgerichtete, von den sozialen Errungenschaften des deutschen Pfarrers Naumann beeinflusste Sozialdemokratische Partei, die der Germanisierung des Elsass eher positiv gegenübersteht und die von Wahl zu Wahl immer mehr Zuspruch findet.

All diese Parteien lassen eine hoch entwickelte, qualitätvolle Meinungspresse entstehen. Bei den letzten Wahlen 1912 – 26 % der Bevölkerung sind protestantisch – erhält jede der Parteien rund ein Drittel der Stimmen.

Man kennt den Aphorismus „katholisch und französisch, protestantisch und deutsch“ („catholiques français, protestants allemands“). In Wirklichkeit sind die Situationen komplex und beweglich. Im Großen und Ganzen stimmt es jedoch, dass sich die Protestanten mehrheitlich für die deutsche Herrschaft entscheiden, mit Ausnahme der wirtschaftlichen Eliten und der „Liberalen“, die weiterhin französisch sprechen. Was die Katholiken betrifft, die im Ganzen genommen Deutschland feindlich gesinnt sind, so lässt die von Frankreich zu jener Zeit praktizierte antiklerikale Politik einige von ihnen in das deutsche Lager übergehen.

Das soziale, intellektuelle und religiöse Leben

  • Albert Schweitzer (1875-1965) © Collection privée

Die religiöse und soziale Aktivität ist durch einen Rückgang der Frömmigkeit gekennzeichnet, dagegen lässt sich ein Anstieg der Betätigung im sozialen Bereich feststellen : Diakonische Arbeit im erzieherischen Bereich, Diakonissen, die Altersheime und Krankenhäuser für Behinderte gründen. Die Jugendbewegungen sind sehr aktiv, desgleichen die Stadtmissionen zur Bekämpfung von Alkoholismus, Prostitution.

Im intellektuellen Bereich genießt die Fakultät für protestantische Theologie in Straßburg großes Ansehen. Dieses erhöht sich noch durch die starke Persönlichkeit von Albert Schweitzer (Privatdozent von 1902 – 1912), der berühmt wird durch die Veröffentlichung seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung sowie auch durch seine Werke über Johann Sebastian Bach.

Diese Zeit ist auch geprägt durch die Wiedergeburt der religiösen Musik : In Straßburg, wo Albert Schweitzer 15 Jahre lang in der Nikolauskirche amtiert und der Wilhelmer-Chor mit Ernst Munch große Berühmtheit erlangt, und auch im Temple Neuf in Mülhausen (Mulhouse).

Das Elsass während des Krieges 1914-1918

  • Kirche Sankt-Nikolaus in Strassburg (67)

Dies war eine besonders schwierige Zeit. 250 000 Elsässer werden in die deutsche Armee eingezogen, dann an die russische Front geschickt. Alle öffentlichen Freiheiten sind aufgehoben. Die Zivilisten gelten als verdächtig, es kommt zu Verhaftungen und Internierungen. Dennoch nehmen 18 000 Elsässer das Risiko auf sich, auf französischer Seite zu kämpfen. Als deutsche Staatsbürger mussten sie den Namen wechseln und oft in die Fremdenlegion eintreten, denn wenn sie von den Deutschen gefasst würden, würden sie als Deserteure gelten und erschossen werden.

Beim Zusammenbruch des Kaiserreichs im Oktober 1918 kann der deutsche Versuch, dem Elsass die Autonomie zu gewähren, die Lage nicht mehr ändern. Nach einigen Wochen revolutionärer Agitation bestätigt der Versailler Vertrag die Rückkehr des Elsass zu Frankreich.

Das Elsass von 1871 bis 1918

Dazugehörige Rundgänge

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Dazugehörige Vermerke

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