Sein Eintritt in die Literatur
1891 veröffentlichte er Les Cahiers d’André Walter [Die Tagebücher André Walters], einer literarischen Figur, die sein eigenes Innenleben verkörperte. Dieses Buch fand sofort das Interesse einiger der großen Schriftsteller seiner Zeit : Maurice Barrès, José-Maria de Hérédia, Maurice Maeterlinck und vor allem Stéphane Mallarmé, dem allseits anerkannten Kopf der Symbolistischen Schule.
Das war der entscheidende Schritt zu seinem „Eintritt in die Literatur“.
André Gide ging oft mit Freunden auf die Reise. Während eines Aufenthaltes in Algerien in den Jahren 1893 und 1894 gab er sich in leidenschaftlich genossener Erregung seinen homosexuellen Neigungen hin. Dort traf er auch wieder mit Oscar Wilde zusammen, den er schon 1891 kennengelernt hatte.
1895 starb seine Mutter. Von ihrer bedrückenden Vormundschaft befreit, ließ er sich einige Monate nach ihrem Tode auf eine Heirat mit Madeleine Rondeaux (1867-1938) ein, einer Cousine ersten Grades. Diese von André seit seiner Jugend ins Auge gefasste Verbindung war eine „Scheinheirat“, die trotz ihres späteren Scheiterns für ihn ein gefühlsmäßiger und moralischer Haltepunkt war, den seine von gegenteiligen Begierden ständig gequälte Natur bitter nötig hatte.
1897 veröffentlichte Gide Les nourritures terrestres [Uns nährt die Erde], eines seiner berühmtesten Werke, in dem er jegliche Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen zurückweist und das Streben nach Sinnenlust, Genuss und Lebensglück verherrlicht : eine Art hedonistischer Programmschrift, die sofort nach ihrem Erscheinen einen großen Einfluss auf die Jugend ausübte.
Unter den nachfolgenden Werken zeugen einige von ausgeprägter Sittenstrenge : La Porte étroite [Die enge Pforte, 1909], in der er das Scheitern seiner Ehe verarbeitete, und La Symphonie Pastorale [Die Pastoral-Symphonie, 1919], in der die Seelenqualen eines Pastors geschildert werden [1946 mit großem Erfolg von Jean Delannoy mit Michèle Morgan in der Hauptrolle verfilmt]. In anderen Werken feiert er die Sinnenlust, so in L’Immoraliste [Der Immoralist, 1914] und Les Caves du Vatican [Die Verliese des Vatikan, 1914], dessen Held sich durch selbstloses Handeln auszeichnet. Si le Grain ne meurt [Wenn der Same nicht verdorrt] erschien 1920 und behandelt in autobiographischer Weise seine eigene Jugend. Seine protestantische Erziehung erscheint unter seiner spitzen Feder im Rückblick in einem äußerst grausamen Licht.
1924 erschien Corydon [Corydon], eine literarisch anspruchslose Verteidigungsschrift der Homosexualität, mit der Gide sich den Zorn seiner katholischen Freunde zuzog. Les Faux Monnayeurs [Die Falschmünzer, 1925] ist sein anspruchsvollstes Romanwerk.
Seit 1901 schrieb Gide auch für das Theater. Sein Stück Le Roi Candaule [König Candaule] wurde nur ein einziges Mal inszeniert. 1931 verfasste er Œdipe [Oedipus] und 1946 Thésée [Theseus], ein Drama, das als sein literarisches Testament gilt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tat sich Gide auch als Mentor der zu jener Zeit zahlreichen Jungliteraten hervor. Er war einer der Mitbegründer der Nouvelle Revue Française [Neue französische Zeitschrift], deren erste Nummer im November 1908 erschien und zu der bedeutende Schriftsteller seiner Generation beitrugen, mit denen er auch befreundet war, darunter Paul Claudel, Jean Schlumberger, Roger Martin du Gard, Francis Jammes, Paul Valéry und Henri Ghéon.
Seine Jugendzeit : eine strenge Erziehung unter eine alles beherrschenden Mutter
André Gide wurde am 22. November 1869 in Paris geboren. Sein Vater kam aus Uzès und hatte einen Lehrstuhl für Römisches Recht an der Juristischen Fakultät von Paris inne. Als er 1880 starb, ging die Erziehung seines einzigen Sohnes in die Hände seiner Witwe über, einer strengen Frau, die aus einer begüterten Familie aus der Normandie stammte und selbst seitens ihrer eigenen Mutter in einem unbeugsamen calvinistischen Geist erzogen worden war. Auch war seine Erziehung durch seinen Großvater Tancrède Gide geprägt, über den André später sagte, er sei vom Schlage derer gewesen, die „mit Gott auf Du und Du stehen“.
André ging zunächst auf die Elsässische Schule in Paris, musste aber dem Unterricht wiederholt fernbleiben, da er von zarter Gesundheit war und von seiner sehr fürsorglichen Mutter oft zur Kur geschickt wurde. Er absolvierte die gymnasiale Oberstufe auf dem Lycée Henri IV von Paris.
Bereits in seiner Kindheit befreundete er sich mit François de Witt-Guizot, dessen Elternhaus in der Nachbarschaft des Familiensitzes seiner Mutter im Dorfe Cuverville in der Normandie stand.
Einer seiner Schulfreunde war der spätere symbolistische Poet Pierre Louÿs (1870-1925).
Während eines Aufenthaltes in Montpellier bei seinem Onkel, dem Wirtschaftswissenschaftler Charles Gide, lernte er Paul Valéry (1871-1945) kennen, mit dem ihn, wie er später schrieb, ein „brüderlicher Einklang der Seelen“ verband.
Als ihm seine Mutter endlich die uneingeschränkte Benutzung der väterlichen Bibliothek gestattete, stürzte er sich mit Feuereifer auf die Schriften von Augustinus, Pascal, Bossuet und Goethe, für den er zeitlebens eine rückhaltlose Bewunderung empfand.
Die Fragments d’un journal intime [Bruchstücke aus einem privaten Tagebuch] von Henri Frédéric Amiel und die Confessions [Bekenntnisse] von Jean-Jacques Rousseau führten ihn zu einer tiefgreifenden Selbstprüfung, deren Verlauf in seinem Tagebuch nachzulesen ist, das er ab 1887 führte und dessen tagtägliche Fortschrift er bis zu seinem Tode niemals unterbrach.
Religiöse Debatten und politisches Engagement
Zeitlebens war Gide ein fleißiger Leser der Bibel, und der Gedankenaustausch mit François Mauriac, Paul Claudel und Henri Ghéon, der aus seiner Bekehrung vom Agnostizismus zum christlichen Glauben kein Geheimnis machte, hielten ihn zu einem ständigen Nachdenken über die Religion an. Da er jedoch durch eine puritanische Erziehung geprägt war, in der strikte Moralvorstellungen den Platz des Glaubens einnahmen, blieben ihm die Heilsgewissheiten seiner katholischen Freunde fremd.
„Es gibt kaum etwas, über das ich meine Meinung nicht geändert hätte“ schrieb Gide am Ende seines Lebens in sein Tagebuch. Dieses Bekenntnis trifft zweifellos auch auf seine politischen Ansichten zu.
In den Jahren 1898 und 1899 stellte er sich – wenn auch ohne großen Aufhebens – an die Seite der Dreyfusianer, liebäugelte aber wegen seiner Bewunderung für Maurice Barrès auch mit der Action Française, einer nationalistischen, royalistischen, antisemitischen, antiprotestantischen und fremdenfeindlichen Bewegung rechtsextremer Anti-Dreyfusianer.
Gide wurde 1914 nicht zum Kriegsdienst eingezogen, sondern arbeitete während des Krieges „unauffällig aber tatkräftig“ in einem Sammellager für Flüchtlinge. Dort machte er die Bekanntschaft von Charles du Bos, der zu einem der engsten Vertrauten seiner religiösen Selbstbefragung wurde.
Nach dem Kriege befasste sich Gide mit den vom Kolonialismus aufgeworfenen Problemen. Ab 1926 bereiste er für fast ein Jahr den Kongo und den Tschad und gab die Eindrücke dieser Reise an seinen Freund Léon Blum weiter, der zu jener Zeit das sozialistische Tageblatt Le Populaire [Das Volksblatt] herausgab. Diese Reiseberichte wurden unter dem Titel Voyage au Congo [Reise in den Kongo, 1927] und Le Retour du Tchad [Die Rückkehr aus dem Tschad, 1928] veröffentlicht.
In den darauf folgenden Jahren näherte er sich dem Kommunismus an, in welchem er ein „neues Abenteuer des Geistes“ sah. 1936 notierte er in seinem Tagebuch : „Nie zuvor habe ich mich mit so leidenschaftlicher Begeisterung um die Zukunft gekümmert“.
Im Januar 1934 reiste er mit André Malraux nach Berlin, um zu versuchen, einen dort inhaftierten Führer der bulgarischen Kommunisten freizubekommen. 1936 ließ er sich von dem Linksbündnis der Front Populaire [Volksfront] mitreißen und fuhr für zwei Monate in die UdSSR, wo er mit Louis Aragon zusammentraf. Sehr bald jedoch wurde er sich über den wahren Charakter der stalinistischen Säuberungen und der Verbannungslager klar. 1936 veröffentlichte er Retour d’U.R.S.S. [Rückkehr aus der UdSSR] und 1937 Retouches à mon retour d’U.R.S.S. [Nachträge zu meiner Rückkehr aus der UdSSR], die ihm die harsche Kritik seiner in jenen Jahren dem Kommunismus sehr nahestehenden Freunde eintrugen.
Mit fortschreitendem Alter ging er zu den Problemen der Zwischenkriegszeit immer mehr auf Abstand. Er umgab sich mit einer Gruppe eingeschworener Geistesverwandter, in der Maria van Rysselberghe – genannt „die kleine Dame“ – den Ton angab. Mit ihrer Tochter Elisabeth Herbart hatte Gide zuvor ein Verhältnis gehabt, aus dem 1923 seine Tochter Catherine Lambert-Gide hervorgegangen war.
Er vergrub sich in die Redaktionsarbeit an seiner Zeitschrift. 1947 erhielt er den Nobelpreis für Literatur „für seine weitumfassende und künstlerisch bedeutungsvolle Verfasserschaft, in welcher Fragen und Verhältnisse der Menschheit mit unerschrockener Wahrheitsliebe und psychologischem Scharfsinn dargestellt werden“.
André Gide starb am 19. Februar 1951 in Paris.
André Gide hatte schon immer einen umstrittenen Ruf. Trotz der relativen Erfolglosigkeit seiner Romane im Moment ihres Erscheinens, trotz des Skandals, den manche seiner Stellungnahmen zu sittlichen Fragen auslösten, und trotz des Umstandes, dass sein Werk heute nicht mehr im Brennpunkt des öffentlichen Interesses steht, bleibt er doch durch seinen Einfluss auf das literarische Leben der ersten vierzig Jahre des 20. Jahrhunderts und durch die klassische Schönheit seiner Sprache der „kapitale Zeitgenosse“, wie ihn André Malraux nannte.