Studium und erste Gemeinde
Marc Boegner wurde 1881 in Epinal geboren. Sein Vater, Paul Boegner, und seine Mutter, Jenny Fallot, stammten aus dem Elsass, kamen jedoch aus der reformierten Tradition.
Den aufeinander folgenden dienstlichen Stationen seines Vaters entsprechend, der Präfekt war, besucht er die höhere Schule in Orléans und dann in Paris.
Er wird stark geprägt durch den Einfluss, den sein Onkel, der Pfarrer Tommy
Fallot (1844-1904), auf ihn ausübt, und da er sich wegen seiner schlechten Sehkraft nicht auf die Aufnahme in die Marineakademie vorbereiten kann, beschließt er, nach einem Erlebnis, das er selbst als seine „Konversion“ bezeichnet, Theologie zu studieren. Er absolviert sein Studium an der Fakultät für protestantische Theologie in Paris. Dieses wird unterbrochen durch den Militärdienst in den Jahren 1901-1902. Nach dem Rigorosum seiner Doktorarbeit über die Katechismen von Calvin (les catéchismes de Calvin) im Juli 1905 und nach seiner Ordination wird er als Pfarrer nach Aouste-sur-Sye (Drôme) berufen, wo Tommy Fallot vor seinem Tod 9 Jahre lang Pfarrer war.
In dieser bescheidenen Landgemeinde beginnt Marc Boegner einen Dienst, der auf Demut, einem offenen Ohr und der Zusammenführung von Menschen und Ideen in einem Glauben gründet.
Das Haus der Missionen und die Gemeinde in Passy
1911 wird er als Professor an die Maison des Missions in Paris berufen. Hier wird ihm bewusst, dass zwischen Mission und Einheit der Kirche eine unumgängliche Verbindung besteht. 1912 trifft er John Mott (1855-1965), einen amerikanischen Laien, Baptisten, Gründer des Christlichen Studentenweltbundes, späterer Friedensnobelpreisträger (1946) und in der Folgezeit Initiator der ökumenischen Bewegung. Gleich im August 1914 wird Boegner als Chefsanitäter einberufen und die ganzen vier Kriegsjahre über hält er ständig Gottesdienste, um denen beizustehen, die ihn um Hilfe bitten, tief zerrissen zwischen „der brennenden.
Hoffnung auf den Sieg und der Pflicht, nicht zu hassen“ („l’ardent espoir de la victoire et l’obligation de refuser la haine“).
Im Oktober 1918 wird er als Pfarrer in die Pariser Gemeinde Passy-Annonciation berufen, und dieses Amt wird er bis 1953 behalten.
Diese Gemeinde, die zwischen unterschiedlichen theologischen und politischen Sensibilitäten gespalten war – was zu jener Zeit innerhalb des Protestantismus häufig vorkam – wird er zu einem Ort der Ausstrahlung für den missionarischen Auftrag der Kirche machen. Bei dieser Aufgabe wird er tatkräftig unterstützt durch Pfarrer Pierre Maury, einen warmherzigen Menschen und hervorragenden Theologen, der ihm 1934 zur Seite gegeben wird und ihm zum Freund, Bruder, Vertrauten in all seinen Gemeindeangelegenheiten“ („l’ami, le frère, le confident de toutes ses préoccupations paroissiales“) werden sollte.
Der Befürworter des föderativen Protestantismus
1928 beginnt Marc Boegner mit den über den Rundfunk verbreiteten Fastenvorträgen, durch die er weit über den bescheidenen Zuhörerkreis seiner Gemeinde bekannt wird. Sein großes Anliegen zu dieser Zeit ist jedoch die Herstellung der Einheit des Protestantismus, und er setzt seine ganze Energie ein, um einen Rahmen zu schaffen, der den Kirchen der Reformierten, der Lutheraner und der Evangelikalen die Möglichkeit bietet, ihren Glauben, der der gleiche ist, miteinander zu teilen, ohne ihre unterschiedlichen theologischen und kirchlichen Positionen aufzugeben.
Die Versammlung der Fédération Protestante de France, die 1929 in Marseille stattfindet, billigt den Zusammenschluss mehrerer Kirchenbünde und protestantischer Vereine in Paris, und ihre Niederlassung Rue de Clichy Nr. 47 bedeutet eine Art Institutionalisierung.
Marc Boegner wird zum Präsidenten der Fédération Protestante de France (FPF) gewählt, und dieses Amt wird er bis 1961 innehaben.
Innerhalb der Fédération stellt sich jedoch weiterhin die Aufgabe, die Einheit der Reformierten Kirchen zu erreichen. Die Gegensätze zwischen Orthodoxen, die an den überkommenen Traditionen festhalten, und Liberalen, die empfänglicher für die Entwicklung der Mentalitäten sind, sind dabei, sich aufzulösen.
Auf der Versammlung in Lyon im Mai 1938 wird auf der Grundlage einer gemeinsamen Glaubenserklärung die Einheit hergestellt und Marc Boegner zum Präsidenten des Nationalen Rats der Église Réformée de France (ERF) (Reformierte Kirche Frankreichs) gewählt.
Damit vereinigt er in seiner Person zwei der höchsten Ämter im französischen Protestantismus.
Der Krieg 1940-1945
Im Juni 1940, nach dem Waffenstillstand, sieht die Fédération Protestante es vor, dass ihr Präsident in die Freie Zone übersiedelt, und Marc Boegner lässt sich in Nîmes nieder, wo immer noch eine starke protestantische Tradition besteht.
Im Januar 1941 wird er als Vertreter der protestantischen Kirchen in den von Marschall Pétain geschaffenen Nationalrat berufen, wo er nach seinen eigenen Worten eine „Politik der Präsenz“ praktizieren kann.
Er unternimmt zahlreiche Reisen und Vorstellungen bei der Regierung in Vichy zugunsten der Vertriebenen oder der in die Internierungslager von Drancy oder Gurs (Pyrénnées Atlantiques) gebrachten Personen und dann zugunsten der Juden.
Diesen im Namen der Reformierten Kirche und der Fédération Protestante vorgetragenen Protesten gehen häufig Treffen mit Kardinal Gerlier, dem Erzbischof von Lyon, und Meinungsaustausch mit Großrabbiner Schwartz voraus. Sie erfolgen auch in der Form direkter Briefe von Pfarrer Marc Boegner an Marschall Pétain, die oft in den sonntäglichen Gottesdiensten von der Kanzel verlesen werden.
Noch in den letzten Monaten vor der Befreiung unternimmt er zahlreiche Vorstellungen, um die Freilassung von Pfarrern (Trocmé, Theiss, de Pury, Roulet) zu erreichen, die wegen Taten im Widerstand oder verfolgten Juden geleisteter Hilfe verhaftet wurden.
Nach dem Krieg erklärt sich Pfarrer Boegner mit Zustimmung der Fédération Protestante de France bereit, beim Prozess gegen Marschall Pétain von der Verteidigung geladen zu werden und als Zeuge auszusagen.
Der Mitbegründer der Ökumene
Bereits zu Beginn seiner Amtstätigkeit litt Marc Boegner unter dem Skandal, den die missionarische Konkurrenz darstellte, und er spürte die Notwendigkeit einer Annäherung zwischen den Christen. Seine Teilnahme an den christlichen Studentenvereinigungen, die die Speerspitze der ökumenischen Bewegung bildeten, hatten in endgültig dazu bewegt, sich zu engagieren.
In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts – in Fanö (Dänemark, 1934), Edinburg (Schottland, 1937), Utrecht (Niederlande, 1938) – bemühen sich die beiden internationalen Leitungen der ökumenischen Bewegung, die stark vom sozialen Christentum geprägte „Vie et Action“ und die sich mehr mit theologischen Fragen befassende „Foi et Constitution„, sich in einem „provisorischen Ökumenischen Rat“, in dem sich Protestanten und Orthodoxe engagieren, einander anzunähern.
Marc Boegner, der die Fédération Protestante de France vertritt, übernimmt darin immer mehr Verantwortung.
Der Zweite Weltkrieg verzögert die Bildung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) und dieser konstituiert sich dann 1948 auf der Versammlung von Amsterdam (Niederlande). Marc Boegner wird als Vertreter des französischen Protestantismus zusammen mit vier weiteren, ausländischen Persönlichkeiten zum Kopräsidenten des Rats der Weisen gewählt.
Die Vollversammlungen in Evanston (USA, 1954) und Neu- Delhi (Indien, 1961), an denen er ebenfalls teilnimmt, bringen die ökumenische Bewegung weiter voran und führen zu vermehrten Beziehungen zwischen den Mitgliedskirchen und einem verstärkten Austausch zur Vertiefung der theologischen Suche.
Trotz persönlicher Stellungnahmen katholischer Geistlicher, die einen Dialog mit den Protestanten befürworten, kommt indessen von der katholischen Kirche kein Zeichen der Annäherung. Sie erwartet von den getrennten Kirchen die „große Rückkehr“.
Beobachter beim II. Vatikanischen Konzil
Jedoch mit dem von Papst Johannes XXIII. 1962 einberufenen II. Vatikanischen Konzil „kommen die Dinge in Bewegung“. Von Paul VI. wird 1963 ein Sekretariat für die Einheit der Christen mit Kardinal Bea als Präsidenten eingerichtet,
Marc Boegner nimmt an der dritten und vierten Konzilssitzung als Beobachter teil.
Dank der von Theologen sämtlicher Konfessionen geleisteten beträchtlichen Arbeit wird dieser ökumenische Anspruch, für den er sich so sehr eingesetzt hat, nach und nach Gemeingut aller Christen.
Mitglied der Académie Française
1963 wird Marc Boegner in die Académie Française gewählt, 1974 wird er Mitglied der Académie des Sciences Morales et Politiques (Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften).
1988 erhält er die Auszeichnung „Gerechter unter den Nationen“.