Eine Protestantisierung Frankreichs ?
In diesem letzten Teil des Jahrhunderts wandelt sich der Einfluss des Protestantismus. Wenn der alte Gedanke einer Protestantisierung Frankreichs wieder in Mode gekommen ist, so verdeutlicht dies eher die völlige Integration der Protestanten in die französische Gesellschaft.
Ein altes Thema
Während die protestantische Identität undeutlicher wird, greifen zahlreiche Historiker, Schriftsteller oder Journalisten das alte, von Barrès und Maurras her bekannte Thema der „Protestantisierung“ Frankreichs wieder auf, jedoch ohne polemische Absicht.
Am Ende des 19. Jahrhunderts befürchteten manche katholische, nationalistisch gesinnte Intellektuelle, die Lösung der „religiösen Frage“ würde letztendlich die Bekehrung Frankreichs zum Protestantismus bedeuten, und dies umso mehr, als bedeutende gesellschaftliche Umwälzungen – insbesondere der Kampf für den Laizismus – häufig dem Protestantismus zugeschrieben wurden. Auch der politische Aspekt wurde hervorgehoben : „Wo immer sich die Reformation durchgesetzt hat, hat sie Bildung gefördert, den wirtschaftlichen Fortschritt beschleunigt, das moralische Niveau angehoben, zur Errichtung und zum ordnungsgemäßen Funktionieren freiheitlicher Institutionen beigetragen“ („Partout où la Réforme s’est établie, elle a favorisé l’instruction, activé le progrès économique, élevé le niveau moral, contribué à l’établissement et au fonctionnement régulier des institutions libres“), schrieb bereits 1876 der Belgier Emile de Laveyele
Das am Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wird
Ein Jahrhundert nach dem belgischen Autor wird das Thema von Alain Peyrefitte in Le Mal Français (Das französische Übel) auf brillante Weise wieder aufgegriffen : „In den Ländern der Reformation sind die Befreiung von jeglicher Bevormundung aus göttlichem Recht, Vertrauen in Individuen und Gruppen, Hinwendung zu wissenschaftlicher Forschung und Technik, Initiativfreudigkeit, wirtschaftliche Gesinnung festzustellen. In den Ländern der Gegenreformation sind Unterwerfung unter eine hierarchische Obrigkeit, Misstrauen gegenüber Individuen und Gruppen, eine autonomie- und innovationsfeindliche Organisation, wirtschaftsfeindliche Voreingenommenheit festzustellen“. („Dans les pays réformés on constate l’affranchissement de toute tutelle de droit divin, la confiance faite aux individus et aux groupes, le goût de la recherche scientifique, de la technique, l’élan donné à l’initiative, la mentalité économique. Dans les pays contre-réformés, on constate la soumission à une autorité hiérarchique, la défiance à l’égard des individus et des groupes, une organisation hostile à l’autonomie et à l’innovation, le préjugé anti-économique“).
1987 ist in der Wochenzeitschrift L’Evénement du Jeudi zu lesen : „es gibt zwar immer weniger „parpaillots“ (fam. für Protestanten), aber ihre modernen Ideen, ihr leidenschaftliches Eintreten für die Freiheit des Individuums und ihr Humanismus haben sich in der ganzen französischen Gesellschaft verbreitet“ („les parpaillots existent de moins en moins, mais leurs idées modernes, leur passion de la liberté individuelle et leur humanisme se sont répandus dans toute la société française“).
Eher eine Integration
Wenn sich der Einfluss der protestantischen Minderheit auch nicht bezweifeln lässt, so sind diese Behauptungen doch übertrieben, denn sie vergessen das Aggiornamento des Katholizismus, und statt von einer Protestantisierung Frankreichs zu sprechen, ist die perfekte Integration des Protestantismus in die heutige Gesellschaft hervorzuheben. 1985 am dreihundertsten Jahrestag der Aufhebung des Edikts von Nantes, wie auch 1998 am vierhundertsten Jahrestag des Edikts von Nantes, stieß das Gedenken an diese Ereignisse bei der öffentlichen Meinung auf Interesse und nicht auf Feindseligkeit.
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