Die Pastoren der „Wüste“
Nach dem Widerruf des Edikts von Nantes mußten die Pastoren Frankreich verlassen. Ab 1715 bildete sich allmählich auf Betreiben von Antoine Court eine neue Pastorenschaft heraus. Die Pastoren der „Wüste“ übten ihr Amt im Verborgenen und unter Lebensgefahr aus.
Prediger und Propheten
Nach dem Widerruf des Edikts von Nantes (1685) hatten die reformierten Pastoren die Wahl, sich entweder zum Katholizismus zu bekehren oder (innerhalb von zwei Wochen) ins Exil zu gehen. Die allermeisten verließen Frankreich und übten ihr Amt künftig in den Ländern des Refuge aus, die ihnen Asyl gewährt hatten. Nach ihrer Auswanderung predigten in Frankreich Laien auf geheimen nächtlichen Versammlungen an abgelegenen Orten und teilten das Abendmahl aus. Das waren die „Prediger“ [prédicants]. Viele von ihnen wurden als Rebellen gegen die Obrigkeit verfolgt, verhaftet und hingerichtet, falls sie es nicht geschafft hatten, rechtzeitig ins Ausland zu fliehen. Einer der bekanntesten Prediger war Claude Brousson (1647-1698).
Ab 1688 begannen im Dauphiné – dann ab 1700 in den Cevennen und im Unteren Languedoc – Männer, Frauen und sogar Kinder als Propheten aufzutreten. Sie riefen die (oft unter Zwang konvertierten) Gläubigen dazu auf, ihren Übertritt zur katholischen Kirche rückgängig zu machen und dem reformierten Glauben fortan treu zu bleiben. Sie scharten ein immer zahlreicheres Publikum um sich.
Die ersten Pastoren
1715 setzte es sich der junge Prediger Antoine Court (1695-1760) zum Ziel, für die Protestanten einen festen Kirchenverband zu schaffen. Er empfahl ihnen, sich nicht mehr von den Propheten beeindrucken zu lassen und die überkommene reformierte Kirchenordnung wieder herzustellen. Die Prediger waren jedoch nicht immer dazu in der Lage, das Kirchenvolk ausreichend zu unterweisen und die heimlich abgehaltenen Versammlungen der „Wüste“ angemessen zu leiten. Dazu waren gut ausgebildete Pastoren nötig, die von einer Synode geprüft und ordiniert werden sollten.
Antoine Court schickte den Prediger Pierre Corteiz (1683-1767), seinen Freund und Mitstreiter, zur Ordination nach Zürich. Nach dessen Rückkehr wollte sich Antoine Court seinerseits in Zürich ordinieren lassen, aber die regionale Synode war damit nicht einverstanden und beschloß, Antoine Court von Pierre Corteiz auf einer Synode in Frankreich ordinieren zu lassen. Die feierliche Handauflegung fand am 21. November 1718 statt.
Der dritte Pastor, Jacques Roger (1665-1745), hatte in jungen Jahren Frankreich verlassen und war über die Schweiz nach Deutschland gegangen. Dort hatte er Theologie studiert, war als Pastor ordiniert worden und hatte eine Kirchengemeinde in Württemberg zugewiesen bekommen. Nach dem Tode Ludwigs XIV. (1715) kehrte er nach Frankreich zurück, um dort trotz aller Gefahren die Versammlungen der „Wüste“ zu betreuen. In Übereinstimmung mit den Plänen des jungen Antoine Court wirkte er dreißig Jahre lang als Pastor im Dauphiné.
Die "mutige" Zeit (1715-1760)
Das geheime Kirchenleben der französischen Reformierten wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der Persönlichkeit des Pastors Antoine Court geprägt. Selbst nachdem sich dieser in der Schweiz (Lausanne) niedergelassen hatte, blieb er für die Kirchen der „Wüste“ die beherrschende Figur. Er kehrte übrigens zur Nationalsynode von 1744 heimlich nach Frankreich zurück. Die Kirchengemeinden des Languedoc hatten sich an ihn gewandt, um einen Streit zu schlichten, der die Gläubigen und ihre Pastoren entzweite : einer der Pastoren der „Wüste“ hatte sich geweigert, sich einer synodalen Entscheidung zu fügen. Court begab daher sich in die Unteren Cevennen und erreichte eine allgemeine Aussöhnung. Um ihm dafür zu danken, ernannte ihn die Synode zum Generalbevollmächtigten [député général] der Untergrundkirchen bei den protestantischen Ländern. In dieser Eigenschaft sollte er im Ausland um Hilfsgelder für die verfolgten Kirchen und die Studenten am Predigerseminar von Lausanne bitten.
Die Pastoren der „Wüste“ hatten bei ihrer Entdeckung durch die Obrigkeit mit der Todesstrafe zu rechnen (erst nach 1762 wurde diese nicht mehr vollstreckt). Trotz dieser Gefahr für Leib und Leben stieg ihre Zahl immer weiter an :
- 1718 hatten die Kirchen der „Wüste“ drei Pastoren
- 1730 : 12 Pastoren für 120 Kirchengemeinden
- 1744 : 28 Pastoren für 300 Kirchengemeinden
- 1756 : 48 Pastoren und 18 Pastorenanwärter
Die Pastoren übten ihr Amt bei den ihnen anvertrauten Untergrundkirchen reihum als Wanderprediger aus. Sie lebten unter ständigem Verfolgungsdruck und durften sich nicht zu erkennen geben. Die Synoden beauftragten die Ältesten, sichere Unterkünfte für sie zu finden. Erst allmählich konnten sie sich dank ihrer erhöhten Zahl, die sie von ihren langen Predigtreisen zu mitunter weit auseinanderliegenden Versammlungsorten befreite, in der Mitte ihrer Gemeinde dauerhaft niederlassen. Von Anfang an waren einige von ihnen verheiratet, wie Corteiz und Court, aber ihre Ehefrauen gerieten ebenfalls in den Sog der Verfolgung und flohen nach Genf.
Die Märtyrer
Die Edikte von Ludwig XIV. (bekräftigt durch Ludwig XV. in seiner Deklaration vom Mai 1724) sahen die Todesstrafe für die Pastoren und Pastorenanwärter vor, die verbotene Versammlungen der „Wüste“ abhielten. Diese Urteile wurden je nach Zeitpunkt und Region jedoch nicht immer vollstreckt. Auf Wellen harter Verfolgung folgten vergleichsweise ruhigere Zeiten.
Der bekannteste unter den verhafteten und hingerichteten Pastoren und Pastorenanwärtern ist Pierre Durand (1700-1732), der Bruder Marie Durands, der 1732 zum Galgen verurteilt wurde. Er hatte 1715 an der Synode in Montèzes teilgenommen.
1745 wurden mehrere Pastoren hingerichtet. Zwei von ihnen waren im Dauphiné tätig gewesen : der junge Louis Ranc und der alte Jacques Roger, der im Alter von achtzig Jahren nach dreißig Jahren heimlicher Amtsausübung hingerichtet wurde.
Im Vivarais löste die Hinrichtung des sechsundzwazig Jahre alten Pastors Mathieu Marjal, genannt Désubas, heftige Unruhen aus, denn er war in seiner Gemeinde sehr beliebt.
Die letzte Hinrichtung eines Pastors fand am 6. Februar 1762 in Toulouse statt. Es handelte sich um François Rochette, der nördlich von Montauban verhaftet worden war.
Auf dem Weg zur Toleranz (1760-1789)
Ab 1760 setzte eine Zeit relativer Ruhe ein, und die Anzahl der Pastoren stieg weiter an.
- 1763 : 62 Pastoren und 35 Pastorenanwärter
- 1783 : 150 Pastoren und 30 Pastorenanwärter
Die bedeutendste Persönlichkeit dieser Zeit ist der Pastor Paul Rabaut (1718-1794), der zahlreiche Großversammlungen im Languedoc leitete und offiziöse Verbindungen zu der dortigen Provinzialregierung unterhielt. Die Versammlungen der „Wüste“ fanden immer öfter tagsüber statt und wurden von nun an auch verstärkt von angesehenen und einflußreichen Personen besucht.
In der Saintonge ließ der Pastor Louis Gibert (1722-1773) ab 1755 Bethäuser [maisons d’oraison] einrichten : schmucklose scheunenartige Gebäude, die vor Regen und Wind schützten und jeden Sonntag die Feier eines Gottesdienstes erlaubten. Es gelang Louis Gibert, den Gouverneur der Provinz, den Marschall von Sennecterre, davon zu überzeugen, daß diese Einrichtungen für die Obrigkeit insofern vorteilhaft war, als sie eine bessere Kontrolle über die protestantischen Versammlungen ermöglichten.
Nach 1760 lebten viele Pastoren mit Frau und Kindern vor aller Augen in ihren Gemeinden.
Die Ausbildung der Pastoren
Die Anwärter auf das Pastorenamt [proposants] wurden in der Frühzeit der „Wüste“ direkt vor Ort angelernt, indem sie den Pastoren bei ihren Amtsgeschäften zur Hand gingen und sich anhand (verbotener) theologischer Schriften weiterbildeten. 1725 eröffnete Antoine Court in Lausanne eine Anstalt zur planmäßigen Ausbildung künftiger Pastoren der „Wüste“ :das Predigerseminar von Lausanne. Die Zöglinge wurden anfangs in einem Jahr, später dann in zwei Jahren von Professoren der Akademie von Lausanne auf ihr Amt vorbereitet. Der Lehrstoff war auf das Fassungsvermögen junger Männer ohne große schulische Vorkenntnisse zugeschnitten.
Die Stipendien dieser Studenten in Lausanne wurden durch Kollekten finanziert, die von Benjamin Duplan eingesammelt wurden, der von der Nationalsynode von 1727 zum Generalbevollmächtigten bei den protestantischen Ländern gewählt worden war. 1744 übernahm Antoine Court diese Aufgabe.
Von 1726 bis 1763 besuchten 154 Studenten das Predigerseminar von Lausanne, das eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Pastoren der „Wüste“ spielte.
Bibliographie
- Bücher
- BASTIDE Samuel, Les pasteurs du Désert, Musée du Désert, 1901
- CARBONNIER-BURKARD Marianne et CABANEL Patrick, Une histoire des protestants en France, Desclée de Brouwer, Paris, 1998
- CHAMSON André, Trois discours au Désert, Bergers et Mages, 1997
- HUGUES Edmond, Antoine Court. Histoire de la restauration du protestantisme en France au XVIIIe siècle, M. Lévy, Paris, 1872
- LASSERRE Claude, Le Séminaire de Lausanne, Bibliothèque historique vaudoise, Lausanne, 1997, n° 112
- PELLETAN Eugène, Jarousseau, pasteur du désert, La Cause, 1982
- PEYRAT Napoléon, Histoire des pasteurs du Désert, Presses du Languedoc, 2002
Dazugehörige Rundgänge
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Dazugehörige Vermerke
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Marie Durand ist für die französischen Protestanten die Verkörperung des Widerstandes gegen religiöse Intoleranz, wie sie in Frankreich nach dem Widerruf des Edikts von Nantes vorherrschte. -
Paul Rabaut (1718-1794)
Als Pastor der Kirche der Wüste hat Paul Rabaut ein gefahrvolles Leben im Verborgenen geführt. -
Benjamin Du Plan (1688-1763)
Benjamin Du Plan gehört zu jenen kirchlichen Laien, die bei der Wiedereinrichtung des Protestantismus in der « Wüste » eine wichtige Rolle gespielt haben. -
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