Die Konflikte
Die theologischen Konflikte gingen durch alle protestantischen Gemeinden. Sie bestimmen die Gründung neuer vom Staat getrennter Kirchen. In den reformierten Kirchen führen sie zu einer Trenung zwischen Orthodoxen und Liberalen auf der Synode von 1872.
Der Status des Dogmas oder Doktrin
Für den orthodoxen Flügel macht die Doktrin nichts anderes, als die biblischen Unterweisungen zu präsentieren. Sie ist also für Pfarrer und Gläubige verpflichtend, und man denkt selbst nicht daran, über sie zu diskutieren oder sie zu verändern. Im Gegenteil dazu wollen die extremen Liberalen, dass die Vernunft die Doktrin weiterentwickelt.
Für den gemässigten Liberalismus und den Symbolo-Fideismus drückt die Doktrin eine glaubende Erfahrung einer Begegnung mit Gott aus. Die Doktrin ist relativ und veränderbar, denn die Erfahrung verändert sich je nach Kontext und nimmt je nach Individuum unterschiedliche Formen an. Es ist aber also nicht möglich, diese verpflichtend zu machen.
Die Liberalen werfen den Orthodoxen vor, die Freiheit des Gläubigen nicht zu respektieren und Gott und das spirituelle Leben in ewiglichen Formeln einsperren zu wollen. Die Orthodoxen werfen den Liberalen vor, die Unterweisung des Evangeliums selbst verändern zu wollen.
Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat
Im 19.Jahrhundert sind fast in ganz Europa die Kirchen vom Staat finanziert und haben ein mehr oder weniger enges Verhältnis zueinander.
Die Erweckungsbewegungen finden diese Situation anormal. Sie sagen, man sei nicht Christ durch die Geburt (wie Bürger), sonder durch eine persönliche Erfahrung. Eine lebendige und treue Kirche setzt sich aus Überzeugten zusammen ; sie gehorcht dem Gesetz Christi und soll in nichts von zivilen Autoritäten abhängen. Der Idee der Volkskirche setzt sich eine Idee der Bekenntniskirche entgegen, und dem Beamtenpfarrer ein Missionarspfarrer. Unter dem Einfluss von Alexandre Vinet bilden sich in der Schweiz und in Frankreich « freie » (« libres ») Kirchen, d.h. neben den offiziellen Kirchen vom Staat unabhängige Kirchen.
Im Gegenteil dazu halten Orthodoxe und Liberale an einer Beziehung zum Staat fest, sei es aus prinzipiellen Gründen (es ist Aufgabe des Staates, die Religion zu unterstützen), sei es aus besonderen Verhältnissen erklärend (um zu verhindern, dass kleine Gruppen das Gesetz in den Gemeinden bestimmen).
Wer ist Mitglied der Kirche ?
Dieser Konflikt hat zwei Vorgeschichten. Es geht darum, welche Bedingungen man erfüllen muss, um Mitglied einer Reformierten Kirche zu sein und, besonders, um Wahlmitglied zu sein (Presbyterien und Synoden werden gewählt).
Für die Liberalen ist derjenige Mitglied der Kirche, der es möchte. Für die Orthodoxen ist Mitglied der Kirche, wer das Glaubensbekenntnis (d.h. einen Text, der die Dogmatik der Kirche zusammenfasst) anerkennt. Für die Erweckungsbewegung ist Mitglied der Kirche, wer eine persönliche Bekehrungserfahrung gemacht hat und ein « erweckter » (« réveillé ») Christ ist.
Dieser Konflikt ist umso schärfer, da sich je nach Definition des Wahlmitglieds die Mehrheit in den Synoden verändert.
Der Status der Bibel
Die Orthodoxie sieht in der Bibel ein Buch mit von Gott kommenden Unterweisungen. Sie denkt, dass ein Ungläubiger, der all dies treu erklärt, gute Theologie betreibt ; er würde die christliche Doktrin in ihrer Wahrheit formulieren.
Die Erweckung ist energisch gegen diese These. Die Bibel wird zum lebendigen und wahren Wort, wenn sie dank des inneren Wirkens des Geistes den Leser betrifft und in ihm eine spirituelle Erfahrung hervorruft.
Die historisch-kritische Exegese, die die meisten Liberalen vertreten, behandelt die biblischen Schriften wie eine Einheit von historischen Dokumenten, die die Ereignisse, die sie erzählt, oft deformiert. Die biblische Kritik muss die Worte Jesu von denen, die man ihm in den Mund gelegt hat, trennen, und so die Reinheit der evangelischen Botschaft freilegen.
Die Orthodoxen klagen die historisch-kritische Methode an, die Autorität der Bibel zu zerstören. Die Erwecker werfen ihr vor, einen intellektuellen und nicht einen gläubigen und existentiellen Zugang zu den Texten zu haben.
Ab 1850 verbreitete die von Édouard Reuss und Timothée Colani begründete Revue de Strasbourg die Arbeiten der historisch-kritischen Exegetiker aus Deutschland. Manche der Mitarbeiter der Zeitschrift, wie Albert Réville und Edmond Scherer verfassen Artikel, die zum Skandal führen. 1854 gründet Edmond de Pressensé die Revue Chrétienne, die Orthodoxen und gemässigten Liberalen offensteht und Extrempositionen verwirft.
Auseinandersetzungen
Diese Konflikte führen zu sehr starken Auseinandersetzungen :
- Die Erweckungsprediger sind oft der Feindschaft von klassischen Pfarrern und Gemeinden ausgesetzt. Manchmal jagen ganze Gemeinden sie mit Steinwürfen fort.
- Die von der Erweckung betroffenen Pfarrer haben Probleme. So ist Adolphe Monod von seiner Pfarrstelle in Lyon vertrieben worden, da er Protestanten, die er nicht als Bekehrte ansah, nicht das Abendmahl geben wollte.
- Die liberalen Pfarrer haben auch Schwierigkeiten : die suffragance von Athanase Coquerel Sohn in Paris wird nicht erneuert. Die Missionsgesellschaft verweigert « liberale » Kandidaten, selbst moderierte wie A.-N. Bertrand und A. Schweitzer.
Dissidente Gemeinden bilden sich : die bekannteste ist die Taitbout-Kapelle in Paris. 1849 schliessen sich vierzehn dieser Gemeinden zusammen zu einer ersten Synode der Freien Kirchen, d.h. vom Staat getrennt.
Die Synode von 1872
Es ist die erste offizielle Nationalsynode der reformierten Kirchen, die sich seit 1659 versammelt. Sie hat zwei Ziele : die Frage des Glaubensbekenntnisses zu regeln und die des Wahlmitglieds.
Die Orthodoxen sind in der Mehrheit und lassen mit 61 Stimmen gegen 45 ein von Charles Bois verfasstes Glaubensbekenntnis (Déclaration de foi) stimmen. Es ist nicht so sehr der Inhalt, als der Gebrauch, den man von diesem Glaubensbekennntis machen will, der die Liberalen beunruhigt : muss man es unbedingt unterschreiben, um Pfarrer oder Mitglied einer Reformierten Kirche zu werden ?
Grosse Streitigkeiten führen zu einer Trennung. Die minoritären Liberalen verlassen die Synode nach der Abstimmung des Glaubensbekenntnisses. Da es in den Texten, die die reformierte Glaubensausübung bestimmen, nicht vorgesehen ist, haben die Entscheidungen dieser Synode keinen Rechtsanspruch. 1879 organisieren die Orthodoxen eine offizielle Synode.
1905, im Moment der Trennung von Staat und Kirche, bilden sich mehrere Unionen reformierter Kirchen, aber 1938 schliesst sich die grosse Mehrheit der Reformierten in der Reformierten Kirche Frankreichs (Église Réformée de France) mit einer Kirchenverfassung zusammen.
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