Die Herkunft der Familie
Die Familie Seydoux ist schweizerischer, katholischer Abstammung. Ihre Existenz ist seit langem in Vaulruz im Kanton Freiburg belegt. André Seydoux (1732-1795) war der erste, der nach Frankreich kam, „um eine neue Stellung zu suchen“, wie viele seiner Landsleute.
Sein Sohn François (1767-1819) kehrte in die Schweiz zurück, wo er zum Protestantismus konvertierte, um Angélique Brelaz zu heiraten. Später kam er wieder nach Paris, um sich in verschiedenen Handelsgeschäften zu betätigen. Seine beiden Söhne, Charles (1796-1875) und Auguste (1801-1878), begründeten die beiden heutigen Zweige der Familie.
Wirtschaftliche Ausrichtung
Der jüngere Sohn, Auguste, ließ sich Anfang der 1820er Jahre in Le Cateau-Cambrésis in Nordfrankreich nieder, wahrscheinlich angezogen von der starken protestantischen Präsenz vor Ort. Er wurde Leiter der Spinnerei Paturle-Lupin, die Schals, Merino- und Kaschmirstoffe, Musselinstoffe und „Bombazine“, Stoffe aus Seidenkette und Kammgarn, herstellte.
Als Auguste krank wurde, bat er seinen Bruder Charles, ihn für einige Jahre zu vertreten. Später übernahm er dann wieder die Leitung der Spinnerei. Er heiratete die Schwester des vorherigen Direktors, bevor er Teilhaber wurde und sich schnell aufgrund seine technischen Fähigkeiten durchsetzte. Das Zusammentreffen seiner Kompetenzen mit denen eines neuen Teilhabers, Henri Sieber, der wie er Schweizer und Protestant war, ermöglichten dem Unternehmen ein starkes Wachstum.
Bis 1830 wurde von Hand zu Hause gesponnen. Von den 10 000 Arbeitern des Unternehmens arbeiten weniger als 1000 in der Fabrik. Auguste leitete die Mechanisierung ein und sein ständiges Streben nach technischen Verbesserungen ermöglichte es der Manufaktur, insbesondere durch den Export der Hälfte der Produktion, den zahlreichen Krisen der Textilindustrie im 19. Jahrhundert sehr viel besser zu widerstehen als der Konkurrenz. Das Unternehmen wurde 1855 mit der Großen Ehrenmedaille der Pariser Weltausstellung ausgezeichnet, die den Auftakt zu zahlreichen weiteren Auszeichnungen darstellte.
Im Jahr 1892 änderte die Firma ihren Namen in „Ets Seydoux & Cie“. Das Werk in Le Cateau beschäftigte 1830 Arbeiter. Zusammen mit den drei in der Region gegründeten Filialen waren es insgesamt 4000. Sechs Familienmitglieder saßen in der Geschäftsleitung und verfolgten eine Sozialpolitik, die den örtlichen Gepflogenheiten weit voraus war.
Im Ersten Weltkrieg wurde die Fabrik von den Deutschen geplündert und anschließend völlig zerstört. Der Wiederaufbau erfolgte schnell, die 3000 Arbeiter der vier Standorte ermöglichten eine monatliche Produktion von 600 bis 700 Kilometern Stoff. Der Aufschwung aber war nur von kurzer Dauer: Die Konjunktur blieb mittelmäßig.
Außerdem kam es 1936 zu Streiks, die von gewalttätigen Demonstrationen gegen die Geschäftsleitung geprägt waren und zum Wegzug von Henri Seydoux und seiner Familie führten. Michel Seydoux, der letzte Vertreter der Familie, verließ 1971 die Stadt und beendete damit ihre 150-jährige Betriebszugehörigkeit. Die Firma wurde 1981 endgültig geschlossen.
Die industrielle Tradition lebte anschließend in der Neuzeit im älteren Zweig wieder auf: Charles Urenkel René Seydoux (1903-1973) wurde nach seiner Heirat mit Geneviève Schlumberger Präsident der Firma Schlumberger. Seine Nachkommen betätigten sich in wichtigen wirtschaftlichen Sparten: Jérôme war Geschäftsführer der Bank Neuflize Schlumberger Mallet (NSM), übernahm später den Textilkonzern Pricel und 1980 das Konglomerat Chargeurs. Er war Präsident der Fluggesellschaft U.T.A. und erwarb verschiedene Presseunternehmen (Le Nouvel Observateur, Le Matin, Libération). Schließlich profilierten er und seine Brüder sich 1990 im Filmgeschäft, indem sie die Gruppen Pathé (Jérôme) und Gaumont (Nicolas) erwarben oder als Filmproduzenten tätig waren (Michel); 2017 kaufte Jérôme seinem Bruder seine Anteile an Gaumont ab und wurde hundertprozentiger Eigentümer dieses Unternehmens.
Profilierung im Staatsdienst
Charles, Stammvater des älteren Zweiges, trat in die Armee ein, bis er 1823 als Hauptmann in den Ruhestand ging. Während seines Aufenthalts im Norden Frankreichs wurde er Oberst der Nationalgarde, Generalrat und 1849 Abgeordneter des Départements „Nord“ in der gesetzgebenden Versammlung. 1852 wurde er Mitglied des Legislativrates. Er wurde dreimal wiedergewählt. Er war Kommandeur der Ehrenlegion und auch Mitglied des Zentralrats der reformierten Kirchen.
Seine Nachkommen führten die Tradition weiter, indem sie sich im Staatsdienst profilierten: Louis-Auguste (1836-1890) war Botschaftssekretär.
Sein Sohn Jacques (1870-1929), der am Quai d’Orsay (Außenministerium) die internationalen Wirtschaftsbeziehungen förderte, war für die deutschen Reparationszahlungen zuständig. Er galt als einer der brillantesten Diplomaten seiner Generation, doch seine Karriere wurde durch seine Krankheit beeinträchtigt. Zwei seiner Söhne wiederum wurden Diplomaten: François (1905-1981) wurde Botschafter in Österreich, bei der NATO und vor allem in Deutschland. Roger (1908-1985), der als Belohnung für seine Tätigkeit in der Résistance in den diplomatischen Dienst trat, war Hochkommissar in Tunesien und Marokko und später Botschafter in der UdSSR und bei den Vereinten Nationen. Beide wurden in den Rang der französischen Botschafter erhoben.
Die diplomatische Tradition wird derzeit von einem Enkel von François und einer Cousine aus dem jüngeren Zweig aufrechterhalten.
Es sei angemerkt, dass die drei Söhne von Jacques Seydoux den Namen ihrer Mutter, der sonst ausgestorben wäre, wieder aufnahmen und sich und ihre Nachkommen Seydoux Fornier de Clausonne nannten.
Auch der jüngere Zweig der Familie engagierte sich im öffentlichen Leben: Auguste wurde Bürgermeister von Le Cateau und Generalrat; als Bonapartist wurde er während des Krieges von 1870 von den Preußen als Geisel genommen, aber die Stadt Le Cateau bezahlte ein Lösegeld von 400 000 Franken, um seine Freilassung zu erwirken. Seine Nachkommen setzten diese Tradition fort: Sein Sohn Charles (1827-1896) wurde Präsident des Generalrats; von dessen Kindern wurden Alfred (1862-1911), Regent der Bank von Frankreich, und André (1871-1927) Generalräte, Albert (1866-1918) wurde zum Abgeordneten gewählt.
Nur ein kleiner Teil des jüngeren Familienzweiges kehrte zum Katholizismus zurück.