Was es im Frankreich
des 16. Jahrhunderts bedeutet, Protestant zu sein
In Frankreich entstehen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zahlreiche reformierte Kirchen. Der Katechismus und die Kirchenordnung von Calvin bringen einen neuen Menschentyp hervor : den Protestanten.
Reformiert zu sein bedeutet, anders zu sein als die anderen
Der reformierte Christ übt eine andere Religion aus als der Katholik. Die Reformation fordert eine Reinigung der als „heidnisch“ und „abergläubisch“ angesehenen katholischen Kultformen, die die „Wahrheit des Christentums verfälscht“ haben. Insbesondere bedeutet reformiert zu sein :
bestimmte Gesten abzulehnen : sich nicht bekreuzigen, nicht an Prozessionen teilnehmen und nicht vor Bildern und Reliquien das Knie zu beugen,
in der Jungfrau Maria und den Heiligen keine Vermittler des Heils mehr zu sehen und deren Kult abzulehnen,
sich nicht mehr von der Kirche beerdigen zu lassen : um jeden Aberglauben zu vermeiden, beten oder predigen die Pastoren nicht bei der Beerdigung. Die Verstorbenen werden der Barmherzigkeit Gottes anvertraut, der ihnen das Heil gewährt. Im Vertrauen auf die göttliche Gnade verzichten die Reformierten auch auf Rituale oder Gebete am Sterbebett (Bestattungszeremonien werden später wieder eingeführt).
Dieser Verzicht bedeutet eine geistige Revolution gegen althergebrachte Verhaltensweisen ein : es gibt keine heilige Zeiten, Orte, Bilder oder Gegenstände mehr.
Neue religiöse Praktiken
Die Reformierten ersetzen die Messe, in deren Mittelpunkt das Abendmahl steht, durch den Gottesdienst, der die Predigt in den Mittelpunkt stellt. Jeden Sonntag versammelt sich die gesamte Gemeinde im Tempel, um Gott zu loben, sein Wort zu hören und zu ihm zu beten. Der gemeinsame Psalmengesang nimmt dabei einen wichtigen Platz ein.
Das Abendmahl wird normalerweise nur an den vier großen reformierten Kirchenfesten (Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Septemberfasten) dargereicht, wobei die Gläubigen das Brot und den Wein entgegennehmen (im Unterschied zu den Katholiken, die jeden Sonntag das Abendmahl feiern und bei denen die Gläubigen nur das Brot (Hostie) erhalten).
Eine weitere neue Glaubenspraxis entsteht unter den Reformierten :Die Familienandacht. Morgens und abends versammelt sich die Familie um das Familienoberhaupt
- um zu beten,
- einen Psalm zu singen,
- und gemeinsam aus der Bibel zu lesen.
Die Sakramente
Von den sieben Sakramenten der katholischen Kirche übernimmt die reformierte Kirche nur zwei : die Taufe und das während des Gottesdienstes begangene Abendmahl.
Die Taufe : sie folgt in ihrer Schlichtheit der Unterweisung von Jesus Christus. Die Reformierten vertrauen das Schicksal der vor ihrer Taufe gestorbenen Kinder der göttlichen Barmherzigkeit an. Durch den Akt der Taufe wird niemand mehr von der Erbsünde befreit ; sie muß daher auch nicht mehr an Neugeborenen vollzogen werden, die sich in Lebensgefahr befinden.
Was wird aus den anderen Sakramenten ? Laufen die reformierten Gläubigen nicht Gefahr, in ihrer Lebensführung durch einen Mangel an geistlichen Bezugspunkten die Orientierung zu verlieren ? Calvin nimmt eine Neuordnung der kirchlichen Praktiken vor, um diese der Unterweisung des Neuen Testamentes anzupassen :
die Firmung : sie wird durch die Glaubensunterweisung (Katechismus) ersetzt, durch die die Jugendlichen auf ihre Teilnahme an der Gemeinschaft der Gläubigen vorbereitet werden (der feierliche Akt der Konfirmation wird später eingeführt),
die Ehe : sie wird nicht als Sakrament anerkannt, aber mit einer Segensliturgie bekräftigt,
die Priesterweihe : Calvin ersetzt das Sakrament der Ordination durch genaue Vorschriften zur Berufung der Pastoren,
die Buße : für die Reformierten wird die Vergebung der Sünden nicht durch einen Priester ausgesprochen, sondern unmittelbar von Gott gewährt. Der Gottesdienst beginnt mit einem allgemeinen Sündenbekenntnis vor Gott und der Zusage der Vergebung,
die Letzte Ölung : sie wird durch den Besuch am Sterbebett ersetzt ; die Familie sowie die Freunde und der Pastor des Sterbenden leisten ihm mit ihren Gebeten Beistand.
Eine andere Ethik
In seiner Kirchenordnung untersagt Calvin jedes Verhalten, das für ihn gegen die Zehn Gebote und die Ehre Gottes verstößt : Ehebruch, Spiel (vor allem Glücksspiel), Tanz, Volksbelustigungen (besonders Karneval) und prunkvolle Bekleidung. So konnte der öffentliche Eindruck entstehen, die Protestanten seien sittenstrenge Menschen.
Die Reformation bringt die überkommene Rangordnung der Werte durcheinander. Sie schafft die Ordensgeistlichkeit ab und entwertet das Ansehen der Mönche und Nonnen, deren Stand nicht mehr als nachahmenswert begriffen wird. Sie führt jedoch auch neue Werte wie Arbeit und Bildung ein, die zur Grundlage der modernen Welt werden.
Die Reformation überträgt den Laien neue Verantwortlichkeiten als Kirchenälteste und Armenpfleger (Diakone). Die Kirche ist keine Hochburg der Geistlichkeit mehr, sondern eine große Gemeinde, deren Angelegenheiten von Laien und Pastoren gemeinsam geregelt werden.
Calvin legt besonderen Wert darauf, daß die Reformation in alle Bereiche des Alltagslebens Eingang findet und daß ein jeder dazu in die Lage versetzt wird, über seinen Glauben Auskunft zu geben : nicht nur der Theologe, sondern auch der « gemeinste und dümmste Schweinehirt ». Indem er jedem einzelnen Christen die Verantwortung für seinen Glauben überträgt, verleiht Calvin ihm eine bisher nicht gekannte Selbstbestimmung und Freiheit.
Die Reformation hat die Stellung des Individuums in der Welt nach und nach verändert. Sie hat damit einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß sich die Gesellschaft langsam gegenüber demokratischen Werten geöffnet hat.
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