Die heimlichen Gottesdienste oder Versammlungen der « Wüste »
Bis 1740 wurden die Versammlungen der « Wüste » in aller Heimlichkeit duchgeführt, obwohl oft zwei- bis dreitausend Gläubige (aus verschiedenen Ortsgemeinden) gleichzeitig an ihnen teilnahmen. Sie fanden nachts an abgelegenen Orten – in Wäldern, Höhlen, Schluchten, Steinbrüchen oder verlassenen Gehöften – statt. Später setzte sich Antoine Court im Languedoc mit dem Vorhaben durch, Versammlungen am hellichten Tag vor den Toren der Städte oder an einem allseits bekannten Ort einzuberufen (mit Ausnahme der Jahre 1750 bis 1752, in denen es zu neuen Verfolgungen seitens der Obrigkeit kommen sollte). Die Beteiligung war überwältigend (bis zu 20.000 Personen) ; Protestanten aus allen gesellschaftlichen Schichten nahmen an ihnen teil. Diese Gottesdienste folgten der Genfer Liturgie, in deren Mittelpunkt eine lange Predigt stand. Das Abendmahl wurde zu regelmäßig wiederkehrenden Terminen gereicht. Zum Ausklang jeder Versammlung nahm der Pastor Dutzende von Taufen und Eheschließungen vor. Angesichts des starken Andrangs wies die Nationalsynode von 1744 die Pastoren dazu an, diese Akte in (versteckten) Registern festzuhalten.
Der Katechismus
Im Rahmen der Versammlungen der „Wüste“ wurde in der Regel auch eine Unterweisung im Katechismus abgehalten. Der Katechismus mußte jedoch auch im Kreise der Familie eingeübt werden. Zunächst geschah das anhand des Catéchisme vonDrelincourt (1642), der hierzu von Antoine Court 1715 empfohlen worden war. Aber die calvinistische Orthodoxie („reine Lehre“), die zu jener Zeit in Genf heftig angegriffen wurde, beherrschte auch den Geist der „Wüste“ nicht mehr lange. 1729 schrieb ein Prediger, alle Studenten im Languedoc seien „hinter dem Katechismus des Herrn Ostervald her und verschlingen ihn geradezu“, und die Synode von 1744 befürwortete den Gebrauch dieses neuen Katechismus des Pastors von Neuchâtel (in seiner Kurzform, 1. Ausgabe von 1731), in dem die „Wahrheiten der Religion“ mit der Moral und den „Pflichten“ in Einklang gebracht seien. Die reformierte Kirchenordnung von 1739 sah die religiöse Unterweisung der Kinder vor ; diese sollte im Alter von etwa 15 Jahren anläßlich eines „Bekenntnisses der Wahrheit“ (profession de la vérité) mit dem Versprechen, Gott treu zu bleiben, abgeschlossen werden und war die Vorbedingung für ihre erste Teilnahme am Abendmahl.
« Gesellschaftsgottesdienst » und « Familienandacht »
Dort, wo keine Versammlungen mit einem Pastor abgehalten werden konnten, versammelten sich die Gläubigen bei dem einen oder anderen Ältesten ihrer Gemeinde zum « Gesellschaftsgottesdienst » mit Sonntagsliturgie und Verlesen einer Predigt. Die protestantischen Stadtbürger zogen diese Form des diskreteren und gesellschaftlich gehobeneren Gottesdienstes den volkstümlichen Großveranstaltungen unter freiem Himmel vor.
Auch im Kreise der Familie wurde der verbotene Kult ausgeübt. Die traditionelle Praxis der Familienandacht bekam in der Zeit der « Wüste » ein neues Gewicht. Jetzt handelte es sich nicht mehr nur um morgendliche und abendliche Gebete und Bibellesungen, sondern um einen Ersatz für den sonntäglichen Gottesdienst, mit vollständiger Liturgie und dem Verlesen einer gedruckten oder abgeschriebenen Predigt. In Amsterdam wurde hierzu extra ein Buch gedruckt : Une liturgie complète pour les protestants de France […] privés de l’exercice public de leur religion [Eine vollständige Liturgie für die Protestanten Frankreichs (…) die ihre Religion nicht öffentlich ausüben können ; 1. Auflage 1756] ; dieses Buch war eine Volksausgabe der Liturgien von Genf und Neuchâtel. Zuvor hatten die Reformierten für ihre Gebetsübungen versteckte Psalmensammlungen oder von Hand zu Hand weitergereichte Abschriften benutzt.
Die Theologie der « Wüste »
Die handgeschriebenen Predigten und die Briefe der Pastoren der „Wüste“, die Abschriften von Gebeten und die von der Obrigkeit beschlagnahmten Bücher weisen auf sehr unterschiedliche theologische Denkweisen und Formen der Frömmigkeit hin, die sich von der calvinistischen Orthodoxie immer weiter entfernen. Die heimliche Weiterreichung von Büchern und die Wanderung der Prediger zwischen der Schweiz (Genf, Lausanne) und den Kirchen der „Wüste“ in den 1730er und 1740er Jahren brachten es mit sich, daß neue theologische Strömungen, die sich dem Geist der aufgeklärten Vernunft geöffnet hatten, ihren Widerhall bis in die tiefsten Cevennen und in die Ardèche fanden – und das zu einer Zeit, in der die Lektüre der Apokalypse überall noch immer oben an stand.