Die Reformationen
und ihre theologischen Auseinandersetzungen
Der Wunsch, die Kirche zu reformieren, war im 16. Jahrhundert in Europa sehr verbreitet, aber es gab keine Einigung darüber, welche Änderungen gefördert werden sollten: Wie reformieren, wie weit? Das Königreich Frankreich bleibt überwiegend katholisch und trotz Verfolgung entwickelt sich nur die reformierte Bewegung.
In welchem Sinne « reformieren » ?
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist der Wunsch nach einer Kirchenreform (der auch schon zuvor wiederholt laut geworden ist) in Europa weit verbreitet. Es herrscht jedoch Uneinigkeit über die Grundsätze und die Zielrichtung einer Reform. Drei Hauptströmungen lassen sich unterscheiden.
- Der Reformismus geht davon aus, daß die Grundsätze der katholischen Kirche richtig sind, daß ihre praktische Anwendung jedoch zu wünschen übrig läßt. Er fordert daher die Korrektur von Abweichungen und Mißbräuchen, aber ohne mit der Kirche zu brechen. Dieser Reformismus findet seinen Ausdruck teilweise in den Beschlüssen des Konzils von Trient (1545-1563), das die Gegenreformation einleitet : einerseits handelt es sich hier um eine Antwort auf die protestantischen Reformationen, andererseits aber um eine weitreichende katholische Kirchenreform.
- Die obrigkeitliche Reformation : sie wird von einzelnen Regierungen, Fürsten oder Stadträten (« Magistrate »), aber auch von Theologieprofessoren, die in ihr eine wichtige Rolle spielen, getragen. Ihre beiden Hauptrichtungen sind die lutherische und die reformierte Reformation. Ihre Befürworter gehen davon aus, daß nicht nur die kirchliche Praxis, sondern auch die religiösen Grundsätze der Kirche berichtigt werden müssen, wobei alles, was der Lehre des Neuen Testamentes der Bibel nicht entspricht, zu beseitigen und der Rest zu bewahren ist. Diese Reformation will keine neue Kirche erschaffen, sondern die vorhandene lediglich grundlegend verbessern. Da das Papsttum dieses Vorgehen ablehnt, kommt es zu einem Bruch mit der Kirche : eine Kirchenspaltung, die ursprünglich nicht beabsichtigt war.
- Die Radikalreformation : für ihre Wortführer gehen die lutherischen und die reformierter Reformatoren nicht weit genug. Sie werfen diesen vor, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Drei Strömungen sind zu erkennen :
- die Täufer, die die Kindstaufe ablehnen,
- die Illuministen, die davon ausgehen, der Heilige Geist spreche direkt zum Herzen und zum Geist der wahren Gläubigen,
- und die Antitrinitarier, die das Dogma der Trinität (« Gott ist Vater, Sohn und Heiliger Geist ») als unbiblisch ablehnen.
Die Radikalreformation will von der bestehenden Kirche gar nichts erhalten. Sie will ausschließlich dem Vorbild der Apostel nacheifern und eine « Kirche des Neuen Testaments » errichten, die mit der tausendjährigen Tradition der Römischen Kirche bricht.
Für Lutheraner und Refomierte ist alles erlaubt, was die Bibel nicht ausdrücklich verbietet. Für die Radikalen ist alles verboten, was sie nicht ausdrücklich befiehlt.
Gott allein ist Gott
Die protestantischen Reformationen werfen dem Katholizismus vor, nicht klar genug zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen zu unterscheiden und einigen von ihnen einen « heiligen » Charakter zu verleihen. Die allen Christen gemeinsame Behauptung, daß « Gott allein Gott ist », bedeutet für die Protestanten, daß Er allein heilig ist und daß neben ihm nichts und niemand verehrt oder angebetet zu werden verdient. Diese « Entheiligung » des Glaubenslebens drückt sich auf verschiedene Weise aus :
- Stärker noch als die Lutheraner lehnen es die Reformierten und die Radikalen ab, im Brot und Wein des Abendmahls (Eucharistie) den Corpus Christi (den wirklichen Leib Christi) zu erkennen : für sie handelt es sich lediglich um Zeichen, nicht um Elemente, die durch das Wunder der Wesensverwandlung ein Teil Gottes geworden sind.
- Die Protestanten erkennen keine « Heiligen » an (auch nicht die in der Bibel bezeugten), die von den Christen verehrt und während des Gottesdienstes oder des Gebets angerufen werden sollten. Der Grundsatz Soli Deo Gloria (« Gott allein die Ehre ») bedeutet für sie, einzig und allein Gott zu verehren und nur Ihm in Andacht zugetan zu sein.
- Die Protestanten lehnen eine Geistlichkeit ab, die durch ihre Weihe außerhalb und oberhalb der Welt der Gläubigen steht und von diesen notwendigerweise angerufen werden muß, um mit Gott in Verbindung zu treten. Sie bestehen vielmehr darauf, daß alle Christen gleichermaßen Zugang zu Gott haben (Grundsatz des allgemeinen Priestertums). Gewisse Radikalreformer lehnen das institutionell verfaßte Priestertum ab : niemand ist Priester oder Pastor. Bei Lutheranern und Reformierten gibt es Pastoren, die bestimmte Aufgaben (Predigt, Unterweisung) übernehmen, die ihnen aber keine besondere religiöse Stellung in der Gemeinde verleihen.
- Die Protestanten stehen auch der « Heiligkeit » der Kirche kritisch gegenüber. Wenn die Kirche auch unverzichtbar ist (das christliche Leben ist eine Gemeinschaftsform), so ist sie deshalb noch lange nicht unfehlbar oder gar für alle Zeit vollkommen. Die Kirche muß im Gegenteil ständig verbessert und gereinigt werden : ecclesia semper reformanda (« Die Kirche ist ständig zu reformieren »).
Heil ohne Verdienst
Alle christlichen Kirchen betonen, daß sich niemand aus eigener Anstrengung oder eigenem Verdienst vor der Ewigen Verdammnis erretten kann. Vielmehr gewährt Gott das Heil bedingungslos allein durch seine Gnade und ohne daß der Gläubige selbst es aus eigener Kraft erlangen kann. Die Kirchen sehen jedoch bezüglich dieser « Bedingungslosigkeit » erhebliche Unterschiede.
- Die Mehrheit der Katholiken geht davon aus, daß Gott vom Gläubigen ein tatkräftiges Mitwirken erwartet. Er gewährt seine Gnade « allen, die da guten Willens sind ». Zwar können diese ihr Heil nicht selbst erwirken, aber sie sollen zeigen, daß sie es erlangen wollen. Gott gibt ihnen, was sie dazu brauchen. Das Heil wird für die Zukunft verheißen : es krönt ein Leben, in dem Gottes Gabe die menschliche Veranlagung berücksichtigt.
- Die Lutheraner gehen ganz allgemein davon aus, daß die Gedanken, Bestrebungen und Taten des Menschen schlecht sind. Selbst wenn sie moralisch gut sind, haben sie keine geistliche Bedeutung. Gott gewährt das Heil ohne irgend etwas dafür zu verlangen : der Gläubige ist in jedem Augenblick seines Lebens ein begnadigter Sünder. Er ist stets sündig und unwürdig, stets von der bedingungslosen Liebe Gottes abhängig, die er in seinem Sohn Jesus Christus erwiesen hat.
- Das Heil ist ein in der Gegenwart erlebter Zustand. Alle Tage erhält es der Gläubige neu von Gott, so als wenn es zum ersten Mal wäre. Für die meisten Reformierten gehört das Heilsversprechen der Vergangenheit an. Gott hat es vor dem Schöpfungsakt gegeben und in Jesus Christus vollendet. Der Gläubige erhält das Heil ohne es im geringsten verdient zu haben. Gott hat ihn noch vor seiner Geburt zum Heil erwählt und entzieht es ihm nicht mehr. Die Erfüllung seines Lebens besteht nicht darin, das Heil zu erlangen, sondern Gott zu bezeugen und ihn in der Welt zu rühmen.
Manche Radikalen sind der Überzeugung, daß der Gläubige die Sünde ganz aus seinem Leben verbannen kann und soll und damit vollkommen wird. Für die Reformierten bleibt er immer ein Sünder, auch wenn es möglich ist, dass sein Leben immer geheiligter wird (man spricht von Heiligung).
Die Autorität der Bibel
Die technischen Fortschritte des Buchdrucks erlauben eine weiträumige Verbreitung der Bibel, was vor der Erfindung Gutenbergs unmöglich war. Dadurch entsteht eine neue Situation, die ein anderes Verhältnis zum Text nach sich zieht. Die Bibel wird von nun an unter Anwendung der Methoden studiert, die von den literarisch gebildeten Humanisten der Renaissance entwickelt worden sind.
Alle christlichen Kirchen sehen die Bibel als höchsten Wert. Aber sie verstehen und benutzen sie auf unterschiedliche Weise.
- Für die Katholiken des 16. Jahrhunderts steht es einzig und allein der kirchlichen Obrigkeit zu, das rechte Verständnis oder die richtige Auslegung der Bibel festzulegen. Niemand kann also die Bibel gegen die Lehren und die Glaubenspraktiken der Kirche anführen oder ihr einen Sinn beilegen, der von der kirchlichen Lehre abweicht.
- Für die Lutheraner und die Reformierten steht es der Kirche nicht zu, den Sinn der Bibel festzulegen ; vielmehr gilt die Bibel als Maßstab für die Treue der Kirche zum Wort Gottes. Ein strenges, mit den Methoden des Humanismus vorgenommenes Textstudium ermöglicht es, die biblische Lehre herauszuarbeiten. Die protestantischen Prediger und Lehrer brauchen dazu eine gediegene universitäre Ausbildung : ihr Wissen und ihre Fähigkeiten garantieren die richtige Auslegung der Bibel, auch wenn sie dazu allein nicht genügen, da ihre Lektüre von Heiligen Geist « erhellt » werden muß.
- Die Radikalen werfen den Lutheranern und den Reformierten vor, den « Gelehrten » und « Spezialisten » zu große Bedeutung beizumessen und lediglich – wie es einer von ihnen ausdrückt – die « Tyrannei der Papisten durch diejenige der Sprachwissenschaftler » zu ersetzen. Sie befürworten eine spontane Lektüre der Bibel : einen volkstümlichen, unbefangenen und inspirierten Umgang mit dem göttlichen Wort, da der Sinn der Bibel dem Herzen und dem Verstand des Gläubigen einzig durch den Heiligen Geist offenbart wird.
Die Reformation in Frankreich im 16. Jahrhundert
Die überwältigende Mehrheit der Franzosen bleibt katholisch. Die reformierte Glaubensbewegung gewinnt jedoch trotz der Verfolgungen immer mehr Anhänger. Ab 1555 entstehen reformierte Kirchen, die das Glaubensbekenntnis (Confession de foi) und die Kirchenordnung (Discipline ecclésiastique) von Calvin übernehmen, die Regeln ihrer Organsationsform auf lokaler, provinzialer und nationaler Ebene festlegt.
Der in der reformierten Kirche abgehaltene Gottesdienst folgt der Liturgie Calvins. In seinem Mittelpunkt steht die von einem Pastor vorgetragene Predigt. Das Abendmahl wird nur viermal im Jahr gefeiert, wobei den Gläubigen Brot und Wein gereicht werden. Außerdem werden Familienandachten abgehalten.
Im 16. Jahrhundert in Frankreich Protestant zu sein bedeutet, sich auf verschiedene Weise von der katholischen Mehrheit abzuheben : durch ein unmittelbares Verhältnis zu Gott, das keine Fürsprache durch die Heiligen und keine Vermittlung durch die Geistlichkeit voraussetzt, aber auch durch die persönliche Lebensführung
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