Die protestantische Evangelisierung
Das 19. Jhdt. bedeutet für Frankreichs Protestanten die Zeit der Wiedereingliederung oder des Wiederaufbaus. Nach mehr als hundert Jahren Existenzverbot war alles – oder fast alles – neu aufzubauen. Das Konkordat ermöglichte die Schaffung neuer und die Konsolidierung bestehender Strukturen. Doch der neue religiöse Pluralismus- so begrenzt er auch war- lud ein, mehr zu unternehmen. Das war die Absicht der protestantischen Evangelisierung : der (politische) Rahmen des Konkordats sollte kein Kokon werden, sondern ein Sprungbrett für einen neuen Aufschwung der Reformation in Frankreich.
1802-1833 : Die ersten Anstösse
Der erste Abschnitt (1802-1833) zeichnete sich aus durch den Beginn der
Evangelisationsanstösse im Kontext der europäischen Erweckungsbewegung, die besonders von Genf ausgingen (Bedeutung von Robert Haldane). Die neue Freiheit, in deren Genuss die französichen Protestanten kamen, war zunächst prekär und begrenzt. Wagemut kam nur allmählich auf, denn man erinnerte sich noch der eisigen Erstarrung nach der Widerrufung des Edikts von Nantes (1685).
Während sich die Niederlassung der Methodisten (auf protestantischem Nährboden) und der Baptisten (auf katholischem Nährboden) abzeichnete, taten sich die ersten Evangelisationsgesellschaften durch ihre Initiativen hervor. Als erste entwickelten ausländische Gesellschaften eine aktive Evangelisierung. Die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft und die Kontinentalgesellschaft schickten ihre Pfarrer und Evangelisatoren. Der Genfer Ami Bost durchquerte das Elsass von 1819-1822, während sich sein Kollege Henri Pyt (1796-1835) zur gleichen Zeit im Norden aufhielt, wo er einen entscheidenden Einfluss auf die Anfänge des Baptismus in Frankreich ausübte. Später weilte er in der Beauce und in Bayonne. Felix Neff (1797-1829), ein anderer Genfer, wurde seinerseits zum „Apostel der Hochalpen“.
In Anlehnung an die britischen, schweizer und niederländischen Vorbilder fingen auch die französischen Gesellschaften an auszuschwärmen. Die älteste, die 1818 gegründete protestantische Bibelgesellschaft (Société Biblique protestante) machte es sich zum Ziel, die Heilige Schrift zu verbreiten. Sie trug zur massiven Verbreitung von Bibelliteratur in der Stadt und auf dem Land bei. 1822 wurde sie von der Gesellschaft für religiöse Schriften (Société des traités religieux) abgelöst.
1833-1870 : Ein neues Ausmass
1833 begann der zweite Abschnitt, der bis in die siebziger Jahre des Jahrhunderts
dauerte. Rythmus und Intensität der protestantischen Evangelisierung nahmen nun trotz der allgemein schwierigen Umstände ein neues Ausmass an. In dieser Zeit gewann das 1830 noch wenig verbreitete Gedankengut der Erweckungsbewegung die Oberhand über den von der Aufklärung geerbten Liberalismus, sogar in der reformierten Konkordatskirche. Die Gründung der Société Evangélique de France, „der ersten Evangelisationsgesellschaft unter französischer Leitung“ (Jean Baubérot), war bezeichnend für diese Wendung.
Dieses sehr ehrgeizige Unternehmen sollte das bislang von den ausländischen Gesellschaften getragene Werk übernehmen. Indem sie die Protestanten verschiedener konfessioneller Prägung vereinte, auch die ausländischen, bestätigte sie ganz klar ihre Ansprüche gegenüber den reformierten Kirchen : Findet die Evangelisierung die Unterstützung der Staatskirche, um so besser – wenn dies jedoch nicht der Fall sein sollte, dann würde die Evangelisierung dennoch weitergeführt werden. Die Gesellschaft entwickelte eine intensive Evangelisationsarbeit mit Hilfe von Kolporteuren, Evangelisatoren, Pfarrern. Auf diese Weise trug sie in bislang ausschliesslich katholischen Gebieten zur Ansiedlung neoprotestantischer Gemeinden bei. „Der Protestantismus,“ so schrieb Lamennais, „hat sich in die Flanken des Katholizismus verbissen, um ihn zu verschlingen.“ Wenn auch deutlich übertrieben, gab dieses Bild neu aufkommenden Befürchtungen der Katholiken Ausdruck. Seit langer Zeit waren sie es nicht mehr gewohnt, dass man den Menschen in Frankreich eine andere Religion als die ihre anbieten könne. Ein gewisser Napoléon Roussel (1805-1878) gründete zwischen 1843 und 1847 beispielsweise bis zu 12 neue Kirchen und protestantische Schulen in der Charente. Mehr als die Konkordatsprotestanten, die sich mit der im April 1847 gegründeten Société Centrale protestante de France wenig um die Evangelisierung der Katholiken bemühten, schwärmten die aus der Société Evangélique de France hervorgegangenen Nicht-Konkordatsprotestanten der Erweckung voller Energie ins katholische Land und beunruhigten damit die Bischöfe. Sie traten darin (in grösserem Massstab) in die Fussstapfen der Baptisten, die das gleiche Evangelisationsziel hatten : das Evangelium überall, auch in vollkommen katholischen Gebieten zu verkünden.
Diese Evangelisationsbewegung blieb nicht ohne kirchliche Folgen. Die neuen Gemeinden entschieden sich gern für die Form der vom Staat getrennten Bekenntniskirche. Während des Zweiten Kaiserreichs wurde der Widerstand lebhafter, besonders in den Jahren nach 1850. Verhaftungen, gelegentlich Gefängnishaft von Pfarrern oder Evangelisatoren, aussergewöhnliche Kirchenschliessungen schwächten den Evangelisationseifer, ohne ihn jedoch zu stoppen. Die Unterdrückung der protestantischen Evangelisierung, insbesondere in den Jahren zwischen 1852 und 1860 liess dann mit dem liberalen Empire nach.
1870-1905 : Eine beispiellose Evangelisationsfreiheit
Ein dritter Abschnitt, von 1870 bis zum Gesetz der Trennung von Kirche und Staat 1905, zeichnete sich aus durch eine auffallende Veränderung der äusseren Umstände. Mit der dauerhaften Einrichtung der 3. Republik wurde die protestantische Evangelisierung wie nie zuvor von einer breiten Gesellschaft geduldet.
Schematisch stellt das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts (besonders von 1876/1877 an und am Ende der Periode des sogenannten „Ordre moral“) für die französichen Protestanten die erste wirkliche Periode dauerhafter und uneingeschränkter Religionsfreiheit dar. In Frankreich zeichnete sie sich auf dem Hindergrund von Niederlage und Zweifeln ab. Der Verlust von 2 Provinzen (Elsass und Moselgebiet), die Zerschmetterung des Landes erregten die Gemüter. Sowohl im nationalen wie internationalen protestantischen Milieu zeigte sich der Wille zum Neuanfang und zur verstärkten Evangelisierung in mehreren bedeutenden Initiativen. Das Evangelium galt als das einzige Heilmittel gegen die das Land quälenden Übel. Diese Zeit zeichnete sich aus durch meherere gleichzeitig durchgeführte Vorhaben, die die Hoffnung hegten, Frankreich zum Protestantismus zu konvertieren. Warum sollte sich jetzt , wo tatsächlich Glaubensfreiheit herrschte, der “ christliche, protestantische Glaube“ nicht endlich durchsetzen, indem er das im 16. Jhdt. begonnene und gescheiterte Werk wieder aufnahm und zu Ende führte ? Dieser Traum vom protestantischen Frankreich wurde immer wieder von so manchem Anhänger der Erweckungsbewegung geäussert.
Unter den Evangelisationsinitiativen muss die Bedeutung der nach ihrem Gründer benannte „Mac All Mission“ hervorgehoben werden. Reverend Mac All (1821-1893) kam nach der Niederlage nach Paris, wo er sich eindringlich berufen fühlte, ein Evangelisationswerk einzurichten. Im Januar 1872 wurde der erste Versammlunsraum in Belleville eröffnet. Dank einer immer breiter werdenden und internationalen protestantischen Unterstützung dehnte sich das Werk von Mac All schnell aus. 1782 nannte es sich Mission für Pariser Arbeiter (Mission aux ouvriers de Paris), 1879 dann Evangelische Volksmission (Mission populaire évangélique). Parallel zu dem Missionswerk Mac All entwickelte sich die protestantische Evangelisierung mit vielen Initiativen, beispielsweise mit dem Pariser Komittee für innere Mission (Comité parisien de Mission interieure). Dieses wurde Ende der siebziger Jahre von Eugene Réveillaud (1851-1935) ins Leben gerufen, der 15 Jahre lang in ganz Frankreich intensive Kampagnen anregte, um das Evangelium zu verbreiten und um in republikanischer und antiklerikaler Perspektive auf den Protestantismus aufmerksam zu machen. Die Niederlassung der Heilsarmee entsprach dem gleichen Bedarf einer gewollten Evangelisierung und war Antwort auf die sozialen Fragen. 3 Jahre nach der Gründung der Bewegung durch den Methodistenpfarrer William Booth (1829-1912) fassten die ersten Offiziere 1881 Fuss auf französischem Boden. Nachdem sie „mit Anzüglichkeiten und bitterem Hohn des Volkes und mit dem Misstrauen der Kirchen empfangen“ (S.Mours) worden waren, erreichten die Anhänger der Heilsarmee schliesslich, dass man sie akzeptierte, und liessen sich sowohl in Paris als auch in den Provinzen nieder. Nach der Devise“ Suppe, Seife, Heil“(soupe, savon, salut) verbanden sie Sozialarbeit mit Evangelisierung. Auch wenn Alphonse Daudet 1833 im « Evangeliste » ein wenig schmeichelhaftes Bild dieser Evangelisierung zeichnet – er sah sie ausschliesslich unter angelsächsigem Einfluss und betonte ihren Gegensatz zu den Hugenotten des Landes – so dauerte diese Evangelisierung bis zum Jahrhundertende an, gemeinsam mit dem über 50 Jahren bestehenden Evangelisationswerk verschiedener anderer Gesellschaften.
Grosse Hoffnungen (1905-1914)
Die Zeit von 1905 bis zum 1. Weltkrieg stellt den letzten Abschnitt der protestantischen Evangelisierung des 19. Jahrhunderts dar.
Auch wenn man sich eigentlich schon im 20. Jhdt. befand, so war es nur eine logische Folge, dass Werke, die im vorherigen Jahrhundert begonnen worden waren, in diesem Zeitabschnitt gleichzeitig ihren Höhepunkt…. und ihren Niedergang erreichten. Es ist kein Zufall, dass Geschichtsbücher den Einschnitt von 1914 als das eigentliche Ende des 19. Jahrhunderts darstellen.
Der Erste Weltkrieg bedeutete das Ende einer Welt und die Geschichte der protestantischen Evangelisierung bestätigt dies auf ihre Art. Vor 1914 war der Traum vom lebendigen „Protestantischen Frankreich“ wie nie zuvor an der Tagesordnung. Die Trennung von Kirche und Staat, die jedem kirchlichen Privileg ein Ende setzte, gab den Protestanten, besonders den schon damals vorhandenen Verteidigern der Freikirche einen beträchtlichen Aufschwung. Die katholische Kirche, die sich hinter ihrem Misstrauen gegenüber der Republik und gegenüber der Bekenntnisneutralität verschanzt hatte, erschien in den Augen vieler Protestanten wie ein Relikt aus einer alten Welt. zur Randexistenz verurteilt. Warum denn nicht mit einer entschlossenen Evangelisierung seitens der Kirchen der Reformation viele Menschen zu Anhängern eines „modernen“ Christentums machen, das Offenbarung und Respekt vor dem individuellen Gewissen, kirchliches Leben und Republik versöhnt ?
Alle Hoffnungen schienen erlaubt. Aus diesem Grund ist es gestattet, den Abschnitt 1905-1914 – auch wenn er kurz erscheint, als eine Zeit der grossen Hoffnung der protestantischen Evangelisierung hervorzuheben. Diese Dynamik zeigte sich in bedeutenden Annäherungen. Es entstand eine unvergleichliche Zusammenarbeit bei den Evangelisationsbemühungen, besonders mit dem Aufbau eines Verbands der Evangelisationswerke (Fédération des œuvres d’évangélisation) und dem Abhalten eines grossen Erweckungskongresses 1913 in Paris. Als die Massenbekehrungen zahlenmässig abnahmen und die zunehmende Landflucht nach und nach das traditionnelle demographische Gleichgewicht zugunsten der Städte veränderte, versammelte dieser Kongress alle protestantischen Organisationen, die Evangelisierung betrieben. Das Prinzip “ Stärke durch Einheit“ führte auch zum Zusammenschluss der beiden wichtigsten französischen Evangelisationsgesellschaften, der Societété Centrale und der Société évangélique zur Société centrale Evangélique. Die Absicht war eindeutig : Verstärkung der Wirksamkeit einer Einrichtung, die nur „die eigentliche Evangelisation“ im Blick hatte, „die Bekehrung, die Predigt des Evangeliums in Kreisen, die es nicht kennen, wie Abergläubige, Ungläubige, Freidenker, Gleichgültige“ ( Paul Barde). Gleichzeitig verbesserten sich – unter einem Klima absoluter Handlungsfreiheit – Methoden und Mittel der Evangelisierung, z.B. zerlegbare Säle, Zelte, Missionsschiffe (auf welche die Mac All Mission zurückgriff). Der Einfluss der Waliser Erweckungsbewegung (1904-1906) schürte den glühenden Evangelisationseifer. Im Saal der Christlichen Union, rue Trévise in Paris, fanden als Folge einer Vorstellungsveranstaltung der Waliser Erweckungsbewegung in überfülltem Raum bis zum ersten Weltkrieg wöchentlich Versammlungen statt, in denen für die Erweckung in Frankreich gebetet wurde. Die Evangelisationskampagne von Ruben Saillens (1855-1942) im Zelt in Nîmes erlebte im Mai/ Juni 1914 einen noch nie dagewesenen Erfolg : 6 Wochen lang wurden Zuhörer abgewiesen und eine Bekehrung folgte der anderen. Doch der Erste Weltkrieg löschte diesen feurigen Eifer. Der Traum vom « protestantischen Frankreich“ ging irgendwo im Alptraum der Schützengräben verloren…. Das 20. Jhdt. konnte nun tatsächlich beginnen.
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