Die hugenottische Fluchtbewegung
nach Brandenburg

Durch das Edikt von Potsdam 1685 zieht der Kurfürst von Brandenburg eine große Anzahl von Hugenotten an, die nach Deutschland geflüchtet waren.

Die Flüchtlingswelle nach Deutschland

Aufnahme der Hugenottenflüchtlinge in Brandenburg 1686 © SHPF

Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) hat eine große Anzahl deutscher Staaten verwüstet. Um sie wieder zu bevölkern, stellen die Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes Zuflucht gesucht hatten, eine umso wertvollere Quelle dar, als sie aus einem angesehenen Land kommen. Brandenburg (das das Herzogtum Preußen beinhaltet) nimmt den Großteil von ihnen auf.

Viele kommen aus den Grenzregionen: Metz und Umgebung, wo die protestantische Gemeinde bedeutend ist, der Picardie, der Champagne und der Gegend um Sedan.

Andere, die aus Südfrankreich stammen (Dauphiné, Provence, Languedoc, Cevennen), haben sich in Richtung Schweiz bewegt. Aber letztere kann sie nicht alle aufnehmen und ist oft nur eine Durchgangsstation in Richtung der Vereinigten Provinzen und besonders nach Deutschland. Schließlich mussten diejenigen, die sich während der ersten Fluchtbewegung in der Pfalz niedergelassen hatten, vor den Truppen Ludwigs XIV. fliehen, die diese Grafschaft 1689 während des Krieges der Augsburger Allianz (1688-1697) verwüsteten.

Die Freistadt Frankfurt am Main, die lutherisch ist, spielt die Rolle einer Drehscheibe für die Fluchtbewegung. Da Deutschland gößtenteils lutherisch ist, wählen die Hugenotten vor allem die calvinistischen Fürstentümer, insbesondere Brandenburg, danach die Grafschaft von Hessen-Kassel. Einige lassen sich in den älteren calvinistischen Gemeinschaften nieder, die während der ersten Fluchtbewegung gegründet worden waren, andere in einigen rheinischen Fürstentümern.

Das Edikt von Potsdam

Die Fürstenfamilie von Brandenburg, die Hohenzollern, hat sich ab 1613 zum Calvinismus bekehrt, ohne diesen aber der Bevölkerung aufzuzwingen: diese bleibt lutherisch, während der Calvinismus die Religion des Hofes ist.

Friedrich-Wilhelm (1620-1688), Kurfürst von Brandenburg – genannt der Große Kurfürst – , veröffentlicht und verbreitet das Edikt von Potsdam (29. Oktober 1685), das den französischen Flüchtlingen besonders großzügige Bedingungen anbietet, um sich in seinem durch die Kriege verwüsteten Staat anzusiedeln. Dieses Edikt garantiert die Kostenübernahme für die Emigranten, sobald sie Frankreich verlassen haben (materielle Unterstützung, Pass, Mitfahrt bis Brandenburg), Freiheit der Wahl, in welchem Staat des Fürsten sie sich ansiedeln wollen, Freiheit des Gottesdienstes in ihrer Muttersprache mit einem vom Fürsten bezahlten Pfarrer, Steuerfreiheit während der ersten vier Jahre, die Möglichkeit, freistehende Wohnungen zu besetzen oder neue zu bauen mit Beihilfen, dieselben Rechte und Privilegien wie die Einheimischen, und vor allem die Einbürgerung ohne den Zwang zu sofortiger Integration.

Dieses auf französisch und auf deutsch verfasste Edikt wird in allen germanischen Ländern weithin verbreitet, auch in der Schweiz, und gelangt  auf geheimen Wegen nach Frankreich. Die Werbung wird von seinem Sohn weitergeführt, dem 1688 an die Macht gekommenen Kurfürsten Friedrich III., der 1701 als Friedrich I. König von Preußen wird.

Während seiner Regierungszeit haben die Hugenotten die gleichen Rechte wie die deutschen Untertanen, kommen aber gleichzeitig weiter in den Genuss der vom Edikt von Potsdam gewährten Privilegien: sie haben ihre eigenen Gerichte, Schulen und ihre französischen Kirchen.

Man schätzt die Zahl der Flüchtlinge, die Nutzen aus diesen Angeboten zogen, auf 20.000. Im Jahre 1700 ist ein Viertel der 30.000 Einwohner Berlins französischen Ursprungs. Die französische Kirche ist sehr aktiv, 1715 zählt sie neun Pfarrer, errichtet drei Kirchen, verwaltet ein Krankenhaus. Sehr wenige nur sind nach 1768 nach Frankreich zurückgekehrt.

Diese Lage dauerte bis 1809 an, als Friedrich-Wilhelm III. die besondere Verfassung der hugenottischen Kolonien abschaffte, indem er ihnen nur die Beibehaltung ihrer kultischen und kirchlichen Organisation gewährte.

Beiträge der Fluchtbewegung

Einer der wesentlichen Beiträge der Fluchtbewegung ist demographischer Natur: die Flüchtlinge tragen dazu bei, die Gegenden wieder zu bevölkern, deren Bevölkerungsdichte nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, den Epidemien und Missernten sehr schwach ist. Zumal die Flüchtlinge aus einem fortgeschritteneren Land kommen und die ersten Flüchtlinge des 16. Jahrhunderts (besonders etwa 100.000 französisch sprechende Wallonen, die aus den spanischen Niederlanden nach Deutschland geflüchtet waren) einen guten Ruf als Unternehmer hinterlassen hatten.

Kultureller Aufschwung

Die nach Brandenburg geflüchteten Militärs werden dem Großen Kurfürst vorgestellt © SHPF

Die Hugenotten hatten einen entscheidenden Anteil an der Schaffung der Königlichen Akademie der Natur-und Geisteswissenschaften in Berlin: deren Mitglieder waren bei ihrer Gründung im Jahre 1700 zu zwei Dritteln französischer Herkunft.

In Preußen ist die Presse im 18. Jahrhundert französischsprachig. Wie in den Vereinigten Provinzen entwickelt sich der Journalismus in französischer Sprache. Die literarische Zeitschrift Berlins, ein 1764 von Joseph de Fresne von Francheville gegründetes Wochenblatt, verfolgte eine doppeltes Ziel: Informationen über das literarische Leben in Preußen zu liefern und als Zwischenstation für die aus Paris kommenden Informationen zu dienen.

In Berlin ist die Neue Zeitung der Gelehrten (1694-1698) die erste wissenschaftliche französische Zeitung. Die Zeitung der Gelehrten wird ab 1720 zur Germanischen Bibliothek, dann zur Literarischen Zeitung Deutschlands, der Schweiz und der Nordischen Länder. Damit haben die Hugenotten dem französischprachigen Publikum das deutsche Denken in Geschichte, Philosophie und Recht zugänglich gemacht. Die auf lateinisch verfassten deutschen Werke werden durch die Vermittlung der Übersetzer ins Französische zugänglich gemacht.

Umfangreiche Korrespondenz zwischen den geflüchteten Hugenotten spielte eine wichtige Rolle in der Verbreitung kultureller Informationen und stellt für uns eine Chronik der hugenottischen Flüchtlingsbewegung im 18. Jahrhundert dar. Man denke vor allem an den Briefwechsel zwischen Elie Luzac (1723-1796), einem in Leyden niedergelassenen Rechtsbeirat und Philosophen, und Jean-Henri-Samuel Formey (1711-1797), dem ständigen Sekretär der Berliner Akademie für Natur-und Geisteswissenschaften.

Neben dem Beruf des Journalisten eröffnet auch der des Erziehers denen, die die französische Sprache beherrschen, zahlreiche  Berufsaussichten. In Brandenburg werden die ehemaligen Schüler des französischen Kollegs von Berlin, wenn sie nicht Pfarrer werden, von aristokratischen oder bürgerlichen Familien der großen Städte Mittel- und Osteuropas eingestellt, darunter Moskau und Sankt-Petersburg. Für diese „wenig bekannten und doch wesentlichen Verbreiter des Europas der Aufklärung“ war das Leben nicht einfach, ein wirklich miserabler Beruf, zumal die Konkurrenz groß ist. Man verlangt von ihnen, so ziemlich alles zu unterrichten, auch Mathematik, aber Französisch wird immer gefordert.

Die jungen Mädchen der französischen Familien werden dazu angestellt, Kinder zu erziehen und ihnen Französisch beizubringen. Samuel Formey, der Sohn eines Hugenotten, ständiger Sekretär der Königlichen Berliner Akademie, hilft vielen von ihnen, eine Stellung zu finden. Die Erziehung der Prinzen und Prinzessinnen der königlichen Familie wurde fast ausschließlich Franzosen anvertraut.

Die französische Sprache hält sich je nach Region. Von der Bitte abgesehen, einen Pfarrer einzustellen, wurde die Bitte nach der Gründung einer französischen Schule von den lokalen Behörden nicht immer akzeptiert und der „Soldatenkönig“ Friedrich-Wilhelm I. war dem französischen Einfluss gegenüber wenig günstig gestimmt. Unter der Herrschaft von Friedrich dagegen war die Stimmung dem Französischen gewogen. Wie immer spielt die kulturelle Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle. Mischehen haben die französischen Namen schnell eingedeutscht und zur Aufgabe des Französischen geführt.

In den wohlhabenden Klassen und in der Aristokratie hat sich das Französische am längsten gehalten. In Berlin bleiben die französischen Kirchen ebenso wie die französischen Schulen lange attraktiv. Frau de Stael zufolge hat die langanhaltende Beibehaltung des Französischen einerseits die Assimilation im Gastland verzögert, andererseits aber die soziale Integration dieser Minderheit dank der Beherrschung der Sprache, die diejenige der europäischen Kultur geworden war, erleichtert.

Im Bereich der Justiz und der religiösenen Aktivitäten hat sich das Französische am längsten gehalten und zum Gebrauch der Zweisprachigkeit beigetragen. Während zur Zeit der napoleonischen Besatzung die Aufnahmegesuche in die französischen Schulen zunahmen, verlangte Pfarrer Thérémin 1814 das Verbot des Französischen im Gottesdienst der französischen Kirchen als Beweis für die Loyalität der französischen Kolonie gegenüber der preußischen Krone.

Wirtschaftlicher Aufschwung

Kirche der Hugenottenflüchtlinge in Berlin in 1705
Die französischen Flüchtlinge gründen Fabrikbetriebe in Brandenburg © SHPF

Die Geflüchteten führen neue, Wohnen und Essen betreffende Gewohnheiten ein. In der Landwirtschaft haben die Hugenotten eine gewisse Anzahl von den im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) zerstörten Dörfern wieder aufgebaut.

Alle Klassen der Gesellschaft sind vertreten und die Berufe sind sehr verschiedenartig. Doch sind die Bauern weniger zahlreich als die Handwerker, die ihr Können in die Gastländer einbringen.

In der Industrie tragen die Hugenotten zur Entwicklung der Gewerbebetriebe und zur Verbreitung der Technik bei, vor allem im Leder- und Textilgewerbe (Seide und Wolle),wo sie eine führende Rolle spielen und so eine Luxusindustrie schaffen, die hauptsächlich dazu bestimmt ist, die Bedürfnisse des Hofes zufriedenzustellen.

Preußen profiert darüber hinaus von der Ankunft zahlreicher Offiziere, von denen einige Experten in Befestigungsfragen sind.

Diese traditionelle Hagiographie in der Geschichte der Flüchtlingsbewegung muss wahrscheinlich eingeschränkt werden. Wie in der Schweiz sind die ersten Flüchtlinge oft auf die Feindschaft der Bevölkerung gestoßen. Außerdem befürchten die örtlichen Institutionen, die städtischen Gilden und die bäuerliche Gemeinschaft, die ihre Interessen und ihre Unabhängigkeit eifersüchtig bewachen, die Entwicklung zu einem zentralisierenden Absolutismus, den diese hugenottische, vom Staat abhängig gewordene Bevölkerung

begünstigen könnte. Die hugenottischen Eliten, die in der Ideologie einer absoluten Monarchie erzogen worden waren, waren dem Großen Kurfürsten und seinen Erben gegenüber dankbar und loyal und stellten ein vereinheitlichendes Element dar.

In diesem Sinne hat die Flüchtlingsbewegung zur Geburt des modernen Preußens beigetragen.

Bibliographie

  • Bücher
    • BONIFAS Aimé et KRUM Horsta, Les huguenots à Berlin et en Brandebourg de Louis XIV à Hitler, Éditions de Paris, Paris, 2000
    • CNRS, Le Refuge huguenot en Allemagne, Paris, 1981
    • DAVID François, Le Refuge protestant dans les pays allemands (1652-1809), Toulouse, 1994
    • HARTWEG Frédéric, Influence culturelle et intégration linguistique du refuge huguenot à Berlin au XVIIIe siècle, 1982, Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande , Numéro 2
    • MAGDELAINE Michelle et THADDEN Rudolf von (dir.), Le Refuge huguenot, Colin, Paris, 1985
    • ROSEN-PREST Viviane, L’historiographie des huguenots en Prusse au temps des Lumières, Champion, Paris, 2002
  • Artikels
    • SHPF, „Le Refuge huguenot en Allemagne“, Bulletin de la Société d'histoire du protestantisme français, SHPF, Paris, 1969, Numéro 4

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