Die Entkolonisierung

Die „koloniale Frage“ ist eines der großen Probleme der Vierten und der Fünften Republik : Frankreich verkrampft sich in seinen imperialen Wunschvorstellungen. Der französische Protestantismus wird besonders von den Auswirkungen des Algerienkriegs betroffen.

Die Synoden nehmen bereits 1947 Stellung

Algier, der Beginn des Algerienkrieges © Collection privée

Bereits im Herbst 1947 fordern einige reformierte Regionalsynoden (Cévennes-Languedoc, Alpes-Rhône), die Kirche solle zur Kolonialfrage nicht schweigen, und in der Zeitschrift Foi et Vie (September-Oktober 1947) prangert Michel Philibert „das lange, schmerzliche Schweigen“ („le silence long et pénible“) der kirchlichen Versammlungen und der protestantischen Zeitungen zu den blutigen Ereignissen in Madagaskar, Indochina und Nordafrika an : „Nazi-Methoden lehnen wir ab“ („Nous refusons les méthodes nazies“).

1948 nimmt die Nationalsynode in Grenoble Stellung „angesichts der Konflikte, die sich in den Gebieten der Französischen Union abspielen und für die wir solidarisch haften“ („devant les conflits qui se poursuivent dans les territoires de l’Union française, conflits dont nous sommes solidairement responsables“) und „verlangt von der Regierung, auf die Mittel zu achten, die sie einsetzt, und die Risiken einer großzügigen Politik einzugehen“ („demande au Gouvernement de veiller aux moyens qu’il emploie et de prendre les risques d’une politique généreuse“).

Der Aufstand in Madagaskar (1947) 

In diesem alten protestantischen Missionsgebiet bricht 1947 ein Aufstand aus, und die Unruhen halten fast zwei Jahre lang an. Die Milizen der französischen Siedler und vor allem die vor Ort geschickten Truppen reagieren mitleidlos und verursachen den Tod von 80.000 Madagassen.

Im Dezember 1948 initiiert die Bewegung Christianisme social (Soziales Christentum) zusammen mit Katholiken in ökumenischen Gruppen oder mit den Aktivisten der Zeitschrift Esprit, der Zeitung Témoignage chrétien oder der Bewegung Vie nouvelle eine Petition, die fordert, dass der Prozess von Tananarive kassiert und im französischen Mutterland neu aufgerollt wird. 1954 spricht sich die Synode von Le Havre für eine Begnadigung der madagassischen politischen Internierten aus.

Der Indochinakrieg (1946-1954)

Nach der Hoffnung auf eine Verhandlungslösung mit dem nationalistischen Führer Hô Chi Minh in Tonkin und der Akzeptierung einer de facto Unabhängigkeit (Konferenz von Fontainebleau, Juli-August 1946), entscheiden sich die Franzosen für eine gewaltsame Lösung. Am 23. November 1946 bombardieren sie von Kriegsschiffen aus Haiphong, was mindestens 6000 Opfer fordert, und entsenden ein Expeditionskorps, um die koloniale Ordnung wieder herzustellen. Es beginnt ein acht Jahre anhaltender Krieg, der im Mai 1954 mit der demütigenden Niederlage von Diên Biên Phu und dem von Pierre Mendès-France geschlossenen Frieden (Genfer Vereinbarungen vom Juli 1954) endet.

Im Februar 1950 nimmt die Resolution von Issy-les-Moulineaux Stellung zum Indochinakrieg. 1952 spricht sich die Synode von Paris für Verhandlungen aus. 1954 bringt die Synode von La Havre ihre („bange Sorge angesichts des sich endlos hinziehenden Indochinakriegs“ („angoisse de l’interminable guerre d’Indochine“) und ihre Hoffnung auf einen Friedenschluss auf der Genfer Konferenz zum Ausdruck.

Der Algerienkrieg

Studienplan über die Kirche und das algerische Problem © S.H.P.F.

In Nordafrika äußern sich in den blutigen Unruhen in Sétif im Mai 1945 und deren Unterdrückung die Spannungen zwischen den Kolonisierten, die die Mehrheit bilden, und den europäischen Siedlern, die nicht begreifen, dass die Zeit der Kolonialherrschaft zu Ende ist. Die Anschläge unter der Leitung der Nationalen Befreiungsfront am 1. November 1954, dem „blutigen Allerheiligenfest“ („Toussaint sanglante“) markieren den Beginn eines Konflikts, der acht Jahre dauern wird. 1957 werden der Armee die Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung übertragen, und die Verhöre, die bis zur Folter gehen können (Schlacht um Algier im Januar 1957), lösen im französischen Mutterland Empörung aus. Am 13. Mai 1958 artet eine Massendemonstration der Anhänger der Algérie française (französisches Algerien) in Unruhen aus, am 31. Mai kehrt General de Gaulle an die Macht zurück, im September 1959 kündigt er die Selbstbestimmung des algerischen Volkes an, und mit den Abkommen von Evian (18. März 1962) wird der Krieg beendet.

Der französische Protestantismus ist von den Auswirkungen dieses Kriegs besonders betroffen : von 1954 bis 1963 werden mindestens 24 Stellungnahmen der verschiedenen Instanzen des Protestantismus veröffentlicht. Im Juni 1954, fünf Monate vor dem Beginn der Feindseligkeiten, fordert die Nationalsynode die Protestanten Nordafrikas auf, sich dafür einzusetzen, dass „alle Menschen an einem normalen Leben teilhaben“ („tous les hommes aient part à une vie normale“) und dass die Gefühle des Hasses überwunden werden. Während des gesamten Krieges werden die Polizeimethoden, die Methoden der „Befriedung“, die Folterungen und außergerichtlichen Exekutionen verurteilt. Bereits 1957 ist die Cimade in Algier, Médéa und den Sammelzentren aktiv. Der am 12. März 1957 vom Rat der Fédération Protestante de France erhobene feierliche Protest wird am 23. März 1957 wiederholt. Er beschwört „die Träger der Staatsmacht erneut, Praktiken abzustellen, die Frankreich unermesslichen Schaden zufügen“ („une fois de plus les pouvoirs publics de mettre un terme aux agissements qui portent à la France un préjudice incalculable »). André Philip, Paul Ricoeur, Daniel Parker gründen zusammen mit Katholiken (H. Marrou, J.M. Domenach, A. Mandouze) ein Komitee des „geistigen Widerstands“.

Im Mai 1959 veröffentlichen Pfarrer Boegner und Kardinal Feltin, der Erzbischof von Paris, einen Appell zugunsten der Million Menschen, die in Sammelzentren untergebracht sind. Auf der Nationalsynode in Toulouse im Juni 1960 werden den Gemeinden 8000 Exemplare eines Weißbuchs „Plan d’étude sur l’Église et le problème algérien“ (Studienplan zu dem Thema “ Die Kirche und das Algerienproblem“) zur Verfügung gestellt, um die Gläubigen zu sensibilisieren und zu „mobilisieren“.

Im November 1960 verabschiedet die Versammlung in Montbéliard eine besonders entschieden gehaltene Erklärung : : „Die Fortsetzung des Krieges beschleunigt unaufhaltsam den moralischen und rechtlichen Niedergang des Staates“ (« la poursuite de la guerre accélère inexorablement la détérioration morale et juridique de l’État »). Sie erregt beträchtliches Aufsehen, zumal sie auf äußerst gefährliche Probleme eingeht, wie die Nichtbefolgung der Einberufungsbefehle (1963 werden 3000 Personen gezählt, die sich der Einberufung widersetzen, darunter zahlreiche Protestanten), die Ablehnung der Folter und die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Im Dezember 1957 wird ein Pfarrer in Belfort, Étienne Mathiot, der einst von der Gestapo verfolgt wurde, verhaftet, weil er einem Verantwortlichen des FLN geholfen hat, sich in die Schweiz abzusetzen. Pfarrer Boegner beklagt sich über diese Verhaftung beim Justizminister, und zu dem im März 1958 stattfindenden Prozess sind mehrere protestantische Pfarrer (Georges Casalis, Maurice Sweeting, Charles Westphal, damals Vizepräsident der Fédération Protestante de France) als Zeugen der Verteidigung geladen. E.Mathiot wird zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.

Dabei besteht in den Leitungsgremien des französischen Protestantismus keine Einigkeit über die Art und Weise, wie der Frieden zu erreichen sei. Für Pfarrer Bourguet, den Präsidenten des Nationalen Rats der Reformierten Kirche, ist der Umstand zu berücksichtigen, dass zu den in Algerien lebenden Europäern auch die protestantische reformierte Gemeinde gehört, von der ein Teil Verhandlungen ablehnt. Einige Räte, die eine Gefährdung der Einheit der Kirche vermeiden wollen (nichts wäre schlimmer als ein Schisma), halten sich zurück, und angesichts dieser Uneinigkeit sind die Jahre 1961-1962 für die reformierte Kirche schwierige Jahre : die in Algerien lebenden Protestanten verlangen, dass „die kirchlichen Versammlungen es vermeiden, bei jeder Gelegenheit Anträge zu verfassen, die Algerien betreffen“ (« les assemblées d’Église évitent de rédiger à toute occasion des motions sur l’Algérie »), und die bedingungslosen Anhänger des französischen Algerien bringen die Monatsschrift Tant qu’il fait jour (So lange es Tag ist) heraus.

Die Rolle der Presse

Tant qu'il fait jour, 1958-1982 ©  S.H.P.F.

Die Presse spielt eine wichtige Rolle, vor allem in Bezug auf Algerien.

Réforme, das wöchentlich erscheinende Referenzblatt der Protestanten, hält sich im Allgemeinen, was die „kolonialen Angelegenheiten“ betrifft, sehr zurück und zeigt in seinen Kommentaren wenig Wagemut. 1954 meint das Blatt noch „la France fait le bonheur des Algériens“ („Frankreich ist ein Segen für die Algerier“), und die ersten Terroranschläge sind ihm unverständlich. Mit der religiösen Reflexion wandelt sich jedoch diese Einstellung, und 1959 wird Algerien zu „einer Art Obsession“ („une forme d’obsession“). Die Osternummer ist ausschließlich diesem Thema gewidmet, und der Algerienkrieg wird als „eine menschliche Tragödie“ („un drame humain“) betrachtet : die Zeitung ist beunruhigt über die Verwirrung unter den Europäern Algeriens, drückt „bestürztes Entsetzen“ („une stupeur horrifiée“) vor dem Terror des FLN aus, zeigt sich jedoch auch aufgebracht über die Folter : Albert Finet, der Direktor von Réforme, prangert die Folter an, die „die Regel und nicht die Ausnahme“ („la règle et non l’exception“) werde und spricht in Bezug auf die camps de regroupement (Sammellager) von einer konzentrationären Welt (univers concentrationnaire). Die Leitartikler – Marcel Niedergang, Jacques Ellul – verteidigen die Lage der verfolgten Mohammedaner.

Andere protestantische Zeitungen zeigen sich weniger zögernd in ihren Stellungnahmen, manchmal sogar radikal. Le Semeur, Foi et Vie, die mit der Zeitschrift der Bewegung Christianisme social verbundene Cité nouvelle, Cahiers de la réconciliation bringen zahlreiche Informationen Artikel und Sondernummern. Bereits 1955 stellen sie die Frage nach Verhandlungen mit den Führern des Aufstands und der Beendigung eines kolonialistischen Kriegs.

Ganz im Gegensatz zu diesen Stellungnahmen erscheint im Juni 1958 die erste Nummer von Tant qu’il fait jour. Diese rechtsextreme, zur Verteidigung des französischen Algerien gegründete Zeitung wird geleitet von Philippe Brissaud und Roland Laudenbach und geht u.a. auf die Initiative des Pfarrers Pierre Courthial zurück (der mit der zweiten Nummer bereits aufhört, in diesem Blatt zu schreiben, um nicht öffentlich politische Einstellungen zu vertreten, an denen die Mitglieder seiner Gemeinde Anstoß nehmen könnten). Diese Zeitung markiert Distanz zu Réforme, die ihr als zu links gilt, und setzt sich für den Schutz der Europäer und aller Algerier gegen den FLN ein, um die Evangelisierung der Mohammedaner fortzusetzen und zu verhindern, dass Algerien „dem Kommunismus anheim fällt“. Die Stellungnahmen von Christianisme social und selbst von Réforme – deren Stellungnahmen werden als „Geistesgestörtheit“ („dérèglement de l’esprit“) eingestuft – werden aufs heftigste kritisiert. Die Preisgabe der Europäer Algeriens wird mit der Widerrufung des Edikts von Nantes verglichen. Tant qu’il fait jour unterstützt den Putsch der Generäle, die Gründung der OAS und im Anschluss an die Abkommen von Evian kündigt sie „eine neue Bartholomäusnacht“ („une nouvelle Saint-Barthélémy“) an. Im Juni 1962 stellt Tant qu’il fait jour ihr Erscheinen ein.

Der Lebensweg des Protestanten Jacques Soustelle ist charakteristisch : der ehemalige Kampfgefährte General de Gaulles entscheidet sich für ein französisches Algerien, schreibt an Brissaud, um ihn in seinem Kampf gegen das “ „Gangrän der protestantischen Kommentatoren“ („gangrène des commentateurs protestants“) zu unterstützen. In seinem Buch l’Espérance trahie (Die verratene Hoffnung) setzt er den Kampf der Algerienfranzosen mit dem der von den Armeen Ludwigs XIV. verfolgten Reformierten gleich.

Bibliographie

  • Bücher
    • WOLFF Philippe (dir.), Les protestants en France, 1800-2000, Privat, Toulouse, 2001
  • Artikels
    • „Les protestants et la guerre d’Algérie“, Bulletin de la SHPF, SHPF, Paris, 2004, Numéro 4

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