Der Protestantismus im Elsass in 19. Jahrhundert

Im Elsass wird die bedeutende lutherische Gemeinschaft, wie auch die überwiegend reformierte Gemeinschaft in Mühlhausen, den gleichen Zwängen unterworfen wie die reformierte Kirche ‚im Inneren‘. Jedoch erlauben es die Aufrechterhaltung einer Zentralstruktur und die Abschwächung der Lehrstreitigkeiten, Spaltungen zu vermeiden. Nach der Niederlage von 1871 werden sich zahlreiche Protestanten im Landesinneren niederlassen.

Die elsässische Ausnahme

  • Jean-Frédéric Oberlin (1740-1826) © S.H.P.F.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählt man etwa 220.000 Lutheraner im Elsass und in dem Gebiet von Montbéliard.

  • Im Elsass stellen die Lutheraner 1/3 der Bevölkerung dar, sie sind zahlreich in den ehemaligen freien Städten wie Munster, Colmar, Weissenburg und besonders Straßburg, wo man 1800 25.000 Protestanten auf 38.000 Einwohner zählt. 160 Gemeinden werden von mehr als 200 Pfarrern betreut. Die Reformierten werden auf 25.000 (16 Pfarrer) geschätzt, besonders in Mühlhausen (14.000), das bis 1798 eine unabhängige Stadt und ausschließlich reformiert war.
  • Das Fürstentum von Montbéliard, lange Eigentum des Fürsten von Württemberg, setzt sich aus vier Grundherrschaften zusammen (Blamont, Clémont, Héricourt und Chatelot), unter französischer Souveränität seit 1678, und der Grafschaft von Montbéliard, die 1793 an Frankreich angegliedert wurde.

Vor 1789 hingen die protestantischen Kirchen auf Grund des Prinzips cujus regio ejus religio von ihrem Fürsten ab, der die kirchliche Hierarchie organisierte : einige Gemeinden werden unter die Autorität eines obersten Verwalters oder eines Kircheninspektors gestellt, der selbst von einem Konsistorium (einer kirchlichen Verwaltung) kontrolliert wird, das aus Laien, in der Regel Juristen, und Theologen besteht, die sie im Namen des Fürsten beaufsichtigen. In den freien Städten wird die Kirche vom Konsistorium kontrolliert, dessen Mitglieder von der Gemeindebehörde gewählt werden. Es besteht keine juristische Verbindung zwischen den verschiedenen Konsistorien, deren Rolle mit der der Bischöfe in der katholischen Kirche verglichen werden kann.

Die neuen Ideen der Revolution werden zunächst von großen Persönlichkeiten wie Oberlin und Blessig wohlwollend aufgenommen. Als die Zeit der Entchristianisierung und der Verhaftungen von ‚Verdächtigen‘ kommt, wird die Religionsausübung oft verboten, das religiöse Leben geht manchmal in Klubs im Verborgenen weiter, wie in Ban-de-la-Roche. Wie die meisten Franzosen ist den Elsässern Bonapartes Machtergreifung und die Rückkehr zur Ordnung willkommen.

Eine weniger gespaltene Gemeinschaft

  • François Haerter (1797-1874) © Mours

Wie im Falle der reformierten Kirche ändert das Konkordat von 1802 die Organisation der Kirche im Elsass. Es erkennt nur, wie bei der reformierten Kirche, die konsistoriale Kirche mit 6000 Seelen an, und nur die Begütertsten können Laienmitglieder der Konsistorien werden.

  • Fünf konsistoriale Kirchen werden unter der Autorität eines Inspektors zusammengefasst, dem eine Versammlung zur Seite steht, die streng überwacht wird und nur mit Genehmigung der Regierung in Gegenwart des Präfekten und des Unterpräfekten zusammen kommen kann. An der Spitze befindet sich das Generalkonsistorium, das seinen Sitz in Straßburg hat und dessen Präsident vom Staatschef ernannt wird. Dieses Konsistorium, das alle fünf Jahre zu einer kurzen Sitzung zusammentritt, hat nur wenig Machtbefugnisse.
  • Tatsächlich wird die Macht von einem Direktorium ausgeübt, das sich aus dem Präsidenten des Generalkonsistoriums, 2 Kircheninspektoren und 3 Laien zusammensetzt, von denen einer vom Staatschef ernannt wird.

Dieser Status wird gut aufgenommen, denn er erkennt die Existenz der Kirche an, die Gleichstellung in Bezug auf die Katholiken und die Zahlung eines Gehaltes an die Pfarrer. Er ändert natürlich die Organisation der lutherischen Kirche, aber die neue ‚Kirche Augsburger Konfession‘ behält eine zentralisierte Struktur bei und eine offiziöse Versammlung, die Pastoralkonferenz, bringt jedes Jahr die Pfarrer des Elsass zusammen und stärkt die Einheit des Luthertums.

Im März 1848 findet eine Art kirchliche Revolution in Straßburg statt : das Direktorium, das des Antirepublikanismus beschuldigt wird, muss abtreten. Eine Versammlung arbeitet einen Plan aus, der die Organisation der lutherischen Kirche demokratisieren soll, aber nicht umgesetzt wird.

Die Machtergreifung von Louis-Napoléon und das Gesetzesdekret vom 26 März 1852 gestalten die Leitung der Kirche um, indem die Zentralisierung verstärkt wird : von der Regierung wird ein Präsident des obersten Konsistoriums ernannt (10 von 27 sind ernannte Mitglieder), und das Direktorium (3 von 5 sind ernannte Mitglieder), das letztere übt die Verwaltungsmacht aus. Hingegen ist die Verstärkung der Zentralisierung kaum ein Problem, denn sie reiht sich in eine historische Tradition ein.

Die Debatte zwischen Liberalen und Evangelischen wird nie mit der Intensität geführt wie bei den Reformierten im Landesinneren. Man darf nicht vergessen, dass unter der Monarchie, die verpflichtet war, den Vertrag von Westfalen einzuhalten, die protestantischen Elsässer trotz zahlreicher Schikanen, Beschneidungen von Rechten und Demütigungen die Freiheit der Religionsausübung behalten haben und sich über die geistige Entwicklung Europas auf dem Laufenden halten. Die Praxis der theologischen Debatte ist nie verloren gegangen, und die Arbeiten der deutschen Schule sind bekannt. Trotz der Tätigkeit Franz Haerters und Frédéric Hornings, die sich zur evangelisch-pietistischen Strömung hin entwickeln, bleiben die Liberalen seit den großen Persönlichkeiten von Blessig und Haffner in der Mehrheit.

Nach Sedan

  • Reuss et Cunitz
    Reuss und Cunitz © S.H.P.F.

Der Vertrag von Frankfurt vom 10 Mai 1871 legt den Verlust des Elsass und eines Teils von Lothringen fest. Das Direktorium und das oberste Konsistorium wie auch die theologische Fakultät verbleiben in Straßburg. Frédéric Lichtenbergers Appell vom Februar 1871, Unsere Pflichten gegenüber Frankreich, stieß auf großen Widerhall und war der Auslöser für zahlreiche Aufbrüche ins Landesinnere. Die theologische Fakultät von Paris, an der viele Elsässer ihre Lehrtätigkeit wieder aufnehmen werden, wird 1877 gegründet. Die geistigen Verbindungen zwischen Straßburg und Paris werden dennoch aufrechterhalten, wie es das Werk des großen Theologen und Hochschullehrers Edouard Reuss zeigt.

Die lutherische Gemeinschaft des Landesinneren ist auf 80.000 Mitglieder geschrumpft : eine Synode tritt 1872 in Paris zusammen, und die neue Organisation (Gesetz von 1879) beachtet die lutherischen Gebräuche mit 2 regionalen Synoden (Paris und Montbéliard) und einer Generalsynode, die Union nimmt mit dem nationalen Bund der lutherischen Kirchen Gestalt an. 1906 wird der Name Kirche Augsburger Konfession abgeändert in Evangelisch-Lutherische Kirche Frankreichs.

Um 1918 die Wiedereingliederung der zurückgegebenen Provinzen leichter zu gestalten, entscheidet die Regierung, das Gesetz der Trennung von Kirche und Staat nicht anzuwenden, wodurch 2 protestantische Kirchen auftauchen : Die Kirche Augsburger Konfession in Elsass-Lothringen und die Reformierte Kirche von Elsass-Lothringen, die beide die Einrichtungen von vor 1870 bewahren. Die neue französische theologische Fakultät, deren Dekan Paul Lobstein ist, wird wiederhergestellt. Der frankophile Charles Scheer, Pfarrer in Mühlhausen, erläutert der Abgeordnetenkammer das ‚elsässische Unbehagen‘ und die Bedeutung der Anerkennung des religiösen Faktors bei dem Prozess der Eingliederung.

Albert Schweitzer wird dem elsässischen Protestantismus die Ausstrahlung seiner großen Persönlichkeit bringen. Nach 1945 liegt die Neuordnung der Kirche von Elsass-Lothringen in der Verantwortung von Charles Althofer, der Bürgermeister von Straßburg wird, und die der theologischen Fakultät wird durch das große Ansehen von François Wendel geprägt werden.

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