Jean Calvin (1509-1564)

Eine Generation nach Luther gibt der Franzose Jean Calvin der Reformation eine neue Richtung : er erneuert die Kirchenordnung und die Glaubenslehre und bestimmt die Rolle der Kirche im Staat neu.

Jugend

  • Calvin (1509-1564)

Jean Calvin (diese Namensform ist eine Rückübertragung ins Französische von Calvinus, der latinisierten Form seines Familiennamens Cauvin) wird in Noyon in der Picardie (Nordfrankreich) geboren. Sein Vater steht als bischöflicher Sekretär und Vermögensverwalter im Dienst der Domherren von Noyon ; seine Mutter, eine fromme Katholikin, stirbt früh. Calvin erhält eine kleine Kirchenpfründe, die es ihm ermöglicht, nach seiner Schulzeit in Noyon zu studieren.

Nach seinem Grundstudium geht er nach Paris auf die Höhere Schule (Collège de la Marche und danach Collège de Montaigu). Sein Vater hat ihn für eine Priesterlaufbahn vorgesehen, aber nach einem Streit mit den Domherren von Noyon schickt er seinen Sohn auf die juristische Fakultät. Calvin studiert die Rechte in Orléans, später in Bourges, wo er die Vorlesungen der bedeutendsten Rechtsgelehrten seiner Zeit besucht. Das Studium der Rechte prägt für immer sein Denken. Im Gegensatz zu Luther hat er eine positive Rechtsauffassung.

Nach dem Tod seines Vaters (1531) widmet er sich der Theologie und den Geisteswissenschaften. Seine erste Veröffentlichung (1532) ist ein Kommentar der Schrift Von der Gnade (De Clementia) des römischen Philosophen Seneca. Er verkehrt in den Kreisen der Humanisten und der Theologen, wo die neuen Ansätze der Kirchenreform diskutiert werden. Er lernt Griechisch und Hebräisch.

Glaubenswechsel und Exil

  • Noyon im 17. Jahrhundert

Wann verliert Calvin seinen katholischen Glauben ? Sehr wahrscheinlich kurz vor 1533 oder während dieses Jahres selbst : der genaue Zeitpunkt ist uns nicht bekannt. Auf jeden Fall verzichtet er 1534 auf seine Kirchenpfründe, was auf einen endgültigen Bruch mit der katholischen Kirche schließen läßt. Das Jahr 1534 verbringt er auf Reisen durch Frankreich (Angoulême, Nérac, Paris, Noyon, Orléans).

Calvin ist gerade in Paris, als es 1534 zur „Plakat-Affäre“ kommt : in Paris und in der Provinz sind in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober heimlich Plakate angeschlagen worden, deren Texte heftige Angriffe auf die Messe und das Abendmahl der Katholiken enthalten. Die daraufhin einsetzenden staatlichen Verfolgungen der Kirchenabtrünnigen bewegen Calvin dazu, Frankreich zu verlassen. Er geht ins Exil nach Basel, wo er seine theologischen Arbeiten fortsetzt. Seine erste dogmatische Schrift ist eine Einleitung zu der 1535 vollendeten französischen Bibelübersetzung seines Vetters Pierre Robert Olivétan (oder Olivetanus). Sein zweites Werk ist eine Zusammenfassung der Grundsätze des christlichen Glauben : Institutio Religionis Christianae („Unterweisung in der christlichen Religion“, 1536). Es handelt sich hier um sein Hauptwerk, an dem er sein ganzes Leben lang weiterarbeitet.

Calvin kommt nach Genf

  • Genf: Untere Stadttore © S.H.P.F.

Calvin hätte eine glänzende Gelehrtenlaufbahn einschlagen können, wenn es nicht zu einem schicksalshaften Zusammentreffen gekommen wäre. Er ist nach Straßburg unterwegs, aber der direkte Weg dorthin ist durch Kriegsereignisse versperrt. Er muß über Genf reisen. Genf hat sich gerade unter dem Einfluß des französischen Reformators Guillaume Farel dem Protestantismus zugewandt. Als Farel erfährt, daß Calvin, der Verfasser der Unterweisung im christlichen Glauben, auf Durchreise in Genf ist, bekniet er ihn, ihm bei der Durchsetzung der Reformation im Stadtstaat zu helfen. Calvin bleibt in Genf und versucht, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Aber das ist eine heikle Aufgabe.

Calvin und Farel streiten sich mit dem Rat der Stadt über religiöse Probleme und besonders über die Frage der jeweiligen Autorität von Kirche und Staat. Der Rat behält das letzte Wort : die beiden Reformatoren werden 1538 aus Genf ausgewiesen.

Calvin in Straßburg

  • Strassburg : Häuser aus dem 16. Jhdt.

Calvin wird von dem Reformator Martin Butzer (oder Bucer) nach Straßburg gerufen, wo er sich für die nächsten drei Jahre niederläßt. Es sind die schönsten Jahre seines Lebens. Er wirkt als Pastor und Professor und verkehrt mit zahlreichen Gelehrten. 1539 heiratet er eine junge Witwe, Idelette de Bure, mit der er einen Sohn hat, der jedoch schon im Kindesalter stirbt ; seine Frau stirbt ebenfalls früh. Butzer hat großen Einfluß auf das Denken Calvins, aber dieser verschont ihn nicht mit Kritik.

1540, fünfundzwanzig Jahre nach Martin Luther, verfaßt Calvin seinen eigenen Kommentar zum Römerbrief (Commentaire de l’Épître aux Romains), in dem er sich offen gegen Luther ausspricht : für ihn besteht kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen dem Gesetz und dem Evangelium.

1541 veröffentlicht er seine „Kleine Abhandlung über das Abendmahl“ (Petit traité de la Cène), in der er einen Mittelweg zwischen den nicht miteinander zu vereinbarenden Lehrsätzen von Luther und Zwingli vorschlägt. Im selben Jahr erscheint die erste französische Ausgabe seiner „Unterweisung im christlichen Glauben“ (Institution de la Religion chrétienne), die sehr viel weiter ausgearbeitet ist als die lateinische Erstausgabe von 1536.

Während seiner Straßburger Jahre erringt Calvin internationales Ansehen. Er begleitet Butzer zu mehreren Religionsgesprächen, die Karl V. angeregt hat, um die Kirchenspaltung zu überwinden. Er trifft Melanchthon, mit dem er sich befreundet. Trotz des Verhandlungsgeschicks Melanchthons und der ausgleichenden Haltung Butzers scheitern alle diese Konferenzen.

Rückkehr nach Genf

1540 stimmt die Mehrheit in den Ratsgremien von Genf für eine Rückkehr Calvins in den Stadtstaat. 1540 und im Januar 1541 ergehen zwei Einladungen an ihn, doch erst im September 1541 trifft Calvin in Genf ein. Er geht davon aus, dort vielleicht ein halbes Jahr zu bleiben. Daraus werden die letzten 23 Jahre seines Lebens.

Während der ersten sechs Monate widmet sich Calvin dem inneren Aufbau der Kirche. Er verfaßt eine Kirchenordnung (Ordonnances ecclésiastiques), eine Sammlung von Glaubensgrundsätzen (Le catéchisme) und eine Liturgie (La forme des prières).

Als Kirchengesang führt er die von Clément Marot in Versform gebrachten und vertonten Psalmen ein. 1542 empfängt er Marot in Genf.

Genf und Calvin werden seitdem immer in einem Atemzug genannt, obwohl sich Calvin dort oft unwohl fühlt. Er lebt dort wie ein Fremder. Erst 1559 wird er in die Bürgerschaft aufgenommen.

Bis 1555 liegt er mit den Räten der Stadt im Streit. Calvin wird oft als der Diktator Genfs dargestellt. In Wirklichkeit hat er jedoch niemals die Religion über die Politik stellen wollen.

Calvin als Prediger und Schriftsteller

  • Eigenhändige Unterschrift Jean Calvins (22. Dezember 1559)

Seit seiner Rückkehr nach Genf tritt Calvin dort auch als Prediger auf. Jeden Sonntag hält er zwei Predigten und alle zwei Wochen predigt er täglich über ein ausgewähltes Buch der Bibel. Tausende dieser Predigten wurden von seinen Schülern mitgeschrieben, aber nur ein Teil davon hat sich bis auf unsere Tage erhalten.

Im Gegensatz zu Luther mißtraut Calvin den aus dem Mittelalter überkommenen Methoden, die Bibel zu lesen, die auf dem Gleichnis (Allegorie) und dem Vorbildcharakter der biblischen Personen und Ereignisse (Typologie) beruhen. Er wendet auf die Bibeltexte die Regeln der Lektüre von weltlicher Literatur an. Besonders wendet er sich gegen die Vermischung von Wortsinn und bildlichem Sinn. Für ihn handelt es sich zum Beispiel bei den von Jesus während des letzten Abendmahls zu seinen Jüngern gesprochenen Worten „Dies ist mein Leib … dies ist mein Blut“ lediglich um eine Ausdrucksweise, um ein sprachliches Bild : Brot und Wein vergegenwärtigen Christus, aber sie sind nicht Christus. Genauso wie in der Bibel die Taube eine Darstellung des Heiligen Geistes ist, nicht aber der Heilige Geist selbst.

Ab 1541 erarbeitet Calvin eine französische Fassung seiner Unterweisung in der christlichen Religion.

Es handelt sich um eines der ersten in französischer Sprache verfaßten Werke systematischer Theologie. Calvin trägt hiermit zu einer Festlegung der französischen Sprache bei, die sich zu jener Zeit in voller Entwicklung befindet.

Calvin hat zahlreiche Schriften in französischer Sprache abgefaßt : Kommentare zur Bibel, theologische Werke, Briefe… Er ist einer der fruchtbarsten französischen Schriftsteller des 16. Jahrhunderts.

Die Servet-Affäre

  • Michel Servet (1511-1553) © S.H.P.F.
  • Gedenkstein am Ort der Folter von Servet im Champel-Viertel in Genf.

Der Spanier Michel Servet (eigentlich Miguel Serveto) ist der Römischen Kirche wie auch den protestantischen Reformatoren verhaßt, weil er in seinen Schriften den christlichen Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit (Trinität) anzweifelt. Für ihn ist das Dogma der Trinität nicht biblisch und daher eine Irrlehre. Calvin verurteilt seine Lehren scharf.

Michel Servet wird in Genf verhaftet, in einem Ketzerprozeß zum Tode verurteilt und am 27. Oktober 1553 verbrannt. Diese Hinrichtung löst einen Streit zwischen Calvin und Sébastien Castellion aus, der ein Fürsprecher religiöser Toleranz ist.

Calvin und Frankreich

Der im Exil lebende Franzose Calvin macht sich Sorgen um Frankreich und um seine Landsleute, die sich dort zum Protestantismus bekennen. Aus Furcht vor Verfolgung leben diese ihren Glauben nur im Geheimen aus und nehmen offiziell am katholischen Kirchenleben teil. Calvin verurteilt diese Heimlichtuerei und fordert sie dazu auf, in eines der protestantischen Länder zu ziehen (Entschuldigungsschreiben an die Nikodemiten, 1544). Daraufhin kommen französische Protestanten massenhaft nach Genf, wo sich die Einwohnerzahl infolgedessen zwischen 1545 und 1560 verdoppelt. Sie leisten Calvin eine nicht unerhebliche Unterstützung.

Ab 1555 entstehen in Frankreich zahlreiche reformierte Kirchen. Calvin ermahnt die Protestanten nun, im Lande zu bleiben. Er hilft ihren Gemeinden mit seinem Rat und schickt ihnen später Pastoren, die an der Genfer Akademie ausgebildet worden sind.

1559 tritt in Paris heimlich die Gründungssynode der Reformierten Kirchen Frankreichs zusammen. Calvin schickt ihnen den Entwurf eines Glaubensbekenntnisses und einer Kirchenordnung. In der Folgezeit sendet er ihnen viele Hirtenbriefe.

Seine letzten Lebensjahre

  • Calvin nimmt Abschied vom Genfer Bürgermeister

Die 1559 in Genf gegründete Akademie trägt zum Ruf der Stadt bei. Der theologische Unterricht, der dort gegeben wird, widmet sich vor allem dem Studium und der Auslegung der Heiligen Schrift.

Die Genfer Akademie wird von dem Franzosen Théodore de Bèze (oder Beza) geleitet. Die hervorragende Qualität ihres Lehrkörpers verleiht ihr einen großen Einfluss.

Ab 1555 ist Calvins Autorität in Genf unumstritten. Das „Genfer Modell“ findet überall in Europa Widerhall. 1559 gibt Calvin seiner Unterweisung die endgültige Form : sie umfaßt seitdem vier Bücher mit insgesamt 80 Kapiteln. Daneben verfaßt er zahlreiche Abhandlungen (gegen die Täufer, gegen die Freidenker, gegen die Astrologie, gegen die Reliquien…). Er hält öffentliche Vorlesungen an der neu gegründeten Genfer Akademie, in denen er eine fortlaufende Erläuterung der biblischen Bücher gibt.

Calvin ist von schwacher Gesundheit und seine rastlose Arbeit strengt ihn sehr an. Er stirbt am 27. Mai 1564 im Alter von 55 Jahren. Théodore de Bèze setzt sein Werk fort.

Jean Calvin (1509-1564)

Bibliographie

  • Bücher
    • BEZE Théodore de, La vie de Jean Calvin, Europresse, 1993
    • CALVIN Jean, Institution de la religion chrétienne, Éd. J.D. Benoit, Paris, 1957-1963, Volume 5
    • CASTELLION Sébastien, Contre le libelle de Calvin, Éditions Zoé, Genève, 1998
    • CHRISTIN Olivier, Les Réformes. Luther, Calvin et les protestants, Découvertes Gallimard, Paris, 1995
    • COTTRET Bernard, Calvin, biographie, Payot, Paris, 1999
    • CROUZET Denis, Jean Calvin, vies parallèles, Fayard, Paris, 2000, p. 480
    • FUCHS Éric, La morale selon Calvin, Cerf, Paris, 1986
    • GIRAN Étienne, Sébastien Castellion et la Réforme calviniste. Les deux Réformes, Hachette, Paris, 1914
    • GISEL Pierre, Le Christ de Calvin, Desclée, Paris, 1990
    • MILLET Olivier, Calvin et la dynamique de la parole, Champion, Paris, 1992
    • MULLER Denis, Jean Calvin, puissance de la loi et limite du pouvoir, Michalon, 2004
    • WEEDA Robert, Le Psautier de Calvin. L’histoire d’un livre populaire au XVIe siècle (1551-1598), Brepols, Turnhout, 2002
    • WENDEL François, Calvin, sources et évolution de sa pensée religieuse, Labor et Fides, Genève, 1985

Dazugehörige Rundgänge

  • Jean Calvin

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  • Das Erscheinen der Reformation in Frankreich

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Dazugehörige Vermerke

  • Philipp Melanchthon (1497-1560)

    Philipp Melanchthon, ein humanistischer Theologe, übernimmt Luthers Ideen. Seine Bemühungen um einen Ausgleich unter den unterschiedlichen Richtungen der Reformation scheitern.
  • Die Kirchlichen Verordnungen (1541)

    In den Kirchlichen Verordnungen bestimmt Calvin die Organisation der Kirche und das Verhältnis der Reformierten Kirche von Genf zur politischen Macht.
  • Ulrich Zwingli (1484-1531)

    Zwingli ist Seelsorger und Theologe. Für ihn ist das Studium der Bibel die Grundlage einer Reformation, die den Kampf gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mit einschließt.
  • Guillaume Farel (1489-1565)

    Farel ist der Reformator der französischen Schweiz und hat besonders in Neuchâtel gewirkt. Er ist Prediger und Organisator sowie Verfasser einer Liturgie in französischer Sprache.
  • Martin Butzer oder Bucer (1491-1551)

    Der gebürtige Elsässer und Humanist hat sich sein ganzes Leben lang dafür eingesetzt, die Einheit der Kirche zu bewahren.
  • Olivétan (1506-1538)

    Olivétan hat sich als Übersetzer der Bibel einen Namen gemacht. Die sogenannte Olivétan-Bibel ist die erste französische Direktübersetzung aus den hebräischen und griechischen Urtexten. Sie ist auch unter dem Namen...
  • Théodore de Bèze oder Beza (1519-1605)

  • Die Plakat-Affäre (1534)

    Plakate mit einem die katholische Kirche beleidigenden Text werden in Paris, in der Provinz und sogar an der Schlafzimmertür des Königs angeschlagen. François I. entschließt sich zur Vergeltung.
  • Clément Marot (1496-1544)

    Clément Marot, ein berühmter französischer Dichter des 16. Jahrhunderts, bringt die Psalmen der Bibel in Versform. Sie werden in ganz Frankreich gesungen und bilden die Grundlage für die berühmte Sammlung...
  • Sébastien Castellion (1515-1563)

    Sébastien Castellion wird heute als Apostel der Toleranz und der Gewissensfreiheit angesehen. Für ihn sind unterschiedliche Interpretationen der Bibel möglich, was ein pluralistisches Christentum und die Ablehnung von Gewaltanwendung legitimiert.